Der Kopf vom Wurm

Standbild Anna Kaleri führt Männer am laufenden Meter vor. Rückwärts laufen lassen könnte man sie auch

Es gibt dieses Buch. Es liegt auf dem Nachttisch und schreit. Es gibt dieses Buch, das angenehm dünn ist und von einer jungen Autorin, Jahrgang 1974, die aus Wippra in Sachsen-Anhalt stammt, in Leipzig studiert und auch in der Schweiz gelebt hat. Das Buch ist ein Debut, und deshalb will ich gut mit ihm umgehen, was ein Problem ist, weil dieses Debut mich zum Wahnsinn treibt.

Es gibt dieses Buch, das auf meinem Nachttisch liegt und schreit und 60 kurze Texte enthält, die jeweils mit dem Satz beginnen: "Es gibt diesen Mann" oder zur Abwechslung sehr selten einmal: "Es gibt diese Bank" oder "Es gibt diese Tür". Was keine wirkliche Erleichterung ist. 60 Geschichten über Männer an und für sich wären nicht das Problem, 60 Texte, die mit demselben Satz anfangen, auch nicht, aber die Kombination aus beidem zerrt schon mächtig an den Nerven.

Es gibt also 60 Texte, die mit dem Satz anfangen "Es gibt diesen Mann" und sich dann vom Allgemeinen zur Besonderung fortsetzen, etwa: "Er ist Katholik. Bis zu dieser Entdeckung war unser Zusammensein harmonisch." - "Er würde mir nicht mal Rosen mitbringen, wenn er mich betrogen hat." - "Ich halte ihn für impotent, aber das soll nicht weiter stören." - "Er ist Schweizer und legt sehr viel Wert auf Mundhygiene."

Ich nehme das Buch weg vom Nachttisch, lese im Bett, auf der Couch, in der U-Bahn. Doch egal wo und wie man es hält, seine Geschichten, die gerne ein wenig ins Phantastische abgleiten, haben die tückische Eigenart, sich selbst auszuwischen, nichts bleibt haften, sie zerrinnen wie beliebig im Augenblick der Lektüre. Der Schweizer, der nicht küssen will und abgelöst wird durch den Liebhaber, der sich die Plomben zählen lässt; der Typ, der in Paris verloren geht und wieder gefunden wird; der andere, der keiner der Väter der vielen Kinder ist; oder der, der Computerküsse einführt. Oder der, der ein Loch im Bauch hat, das eigentlich eine Schlange ist.

Es gibt dieses Buch, dessen Autorin mit Sprache gut umgehen kann, sie schreibt gewandt und hat hübsche Formulierungen, sogar für den Beischlaf. Das nutzt aber nichts, weil ihr Buch mehr Lust macht, selber anzufangen, Geschichten nach seinem Strickmuster zu schreiben, als es weiter zu lesen. So ergäben sich Momentaufnahmen, Standbilder der eigenen Liebschaften und Beziehungen. Dasselbe von anderen zu lesen ist, wie wahr oder ausgedacht auch immer, von der ersten Seite an langweilig.

Es gibt dieses Buch, und wenn ich über es schreiben würde wie die Autorin über Männer, würde ich schreiben, dass es auf meinem Schreibtisch liegt und greint und mit den Seiten klappert. Sobald ich aufstehe, klemmt es sich an meine Beine und will mit, ganz schön penetrant für ein so kleines Buch, und wenn ich es öffne wie eine Schachtel, sind darin 60 Würmer, die man auch von hinten nach vorne lesen oder in der Mitte entzwei schneiden könnte, ohne dass sie dadurch halber würden. Wo der Kopf vom Wurm ist, erkennt man daran, dass dort steht: "Es gibt diesen Mann".

Es gibt dieses Buch, zu dem mir partout nichts Vernünftiges einfallen will. Das ärgert ganz besonders. Ich versuche es mit Vergleichen, für die ich Hinweise finde, vielleicht mit Brechts Herrn Keuner oder mit Peter Bichsels Geschichten vom Milchmann - es haut nicht hin. Beide erzählen etwas, mein Marter-Buch aber hält keine Handlung fest, kein Bild, kein Gefühl.

Es gibt dieses Buch. Ein zweites Mal lesen würde ich es nicht. Eher schreibe ich 60 Rezensionen, die mit dem Satz anfangen "Es gibt dieses Buch".

Anna Kaleri, Es gibt diesen Mann. Erzählungen. Luchterhand, München 2003, 142 S., 15,50 EUR


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