Die Freiheit der Frisuren

Risiko Die EU-Kommission will privaten Versicherern Unisex-Tarife vorschreiben. Das tut ihnen weh, doch Schmerz muss sein

Privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen haben einen Vorzug: allein dem eigenen Nutzen verpflichtet, können sie der Wirklichkeit geradewegs ins Auge blicken, klar und nicht durch rosa Solidaritätswölkchen vernebelt, sagen sie, was Fakt und was der Fall ist. Junge Männer zwischen 20 und 30 zum Beispiel fahren sich selbst und ihre Autos gerne zu Schrott. Das liegt in ihrer Natur und deshalb müssen sie bei einigen KFZ-Versicherungen und später auch bei Lebensversicherungen mehr zahlen als ihre weiblichen Altersgenossen. Scheint gerecht. Frauen hingegen leben länger und werden - auch das liegt in ihrer Natur - mitunter schwanger. Deshalb zahlen sie bei allen privaten Renten- und Krankenversicherungen erheblich mehr als Männer. Ist das gerecht?

Auf Betreiben der EU-Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou hat die Europäische Kommission Anfang November den Vorschlag für eine Richtlinie erlassen, nach der geschlechtsbezogene Tarife verboten werden sollen. Gleichbehandlung von Frauen und Männern ist das Ziel, und dem Richtlinienvorschlag kommt deshalb hohe Bedeutung zu, weil er den Gleichbehandlungsgrundsatz ausweitet. Zum ersten Mal wird er außerhalb des Bereichs der Beschäftigungsverhältnisse, also auf neuem Terrain, angewandt.

Diamantopoulous Richtlinie bezieht sich auf "Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen" insgesamt, trifft in der Hauptsache aber Banken und private Versicherungen. Die messen - im Gegensatz zu gesetzlichen Versicherungen - wie selbstverständlich mit zweierlei Maß. Der durchschnittliche monatliche Beitragssatz einer privaten Krankenversicherung liegt mit 229 Euro für eine 25-Jährige um ganze 90 Euro höher als für Männer, in der Altersgruppe der 35-Jährigen steigt die Differenz auf 134 Euro, bei 50-Jährigen beträgt sie 71 Euro. Die "Schadensgruppe Frau", so das Argument für die drastischen Unterschiede, nehme eben medizinische Leistungen öfter in Anspruch. Bei privaten Rentenversicherungen zahlen Frauen bis zu 15 Prozent mehr als Männer, auch die staatlich geförderte Riesterrente arbeitet mit zwei Tarifen. Männer leben ja statistisch gesehen kürzer und müssen das Eingezahlte nicht so lange strecken.

Frauen also zahlen - egal ob sie im Einzelfall schwanger werden, gesund leben oder früh sterben - qua Geschlecht drauf. Das Problem wird zunehmen, da der Anteil an privaten Versicherungen für die Vorsorge steigt und Frauen zwingt, die ungleichen Tarife zu akzeptieren. Das wenige, was sie eventuell im Gegenzug bei der KFZ- und Lebensversicherungen sparen, gleicht in keinem Fall aus, was sie anderswo mehr berappen müssen.

Einen "Durchbruch bei der Gleichstellung der Geschlechter" nennt Anna Diamantoupoulou die neue Richtlinie und inhaltlich wird wohl kein vernünftig denkender Mensch - außer der Versicherungslobby - etwas gegen die Regelung einwenden können. Nicht nur aus Prinzip der Solidarität, Gerechtigkeit und des grundgesetzlich verankerten Gleichheitsgrundsatzes sind die geltenden Tarifberechnungen bedenklich, auch der "Realismus" der Privatversicherer steht auf morschem Boden und befindet sich argumentativ etwa auf dem Niveau, als würde man behaupten, Männern stünde höhere Sozialhilfe zu, weil sie mehr Lebensmittel brauchen als Frauen, um ihr Körpergewicht zu halten. Selbst wenn das ein Argument wäre, so hieße die Weisheit der EU-Kommission: es zählt nicht.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft läuft - natürlich - Sturm und droht mit Preiserhöhungen und mit Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Grundlage der Preiskalkulation sei nicht Diskriminierung sondern "sachlich begründete Differenzierung". Dumm nur, dass differenzieren und diskriminieren so eng zusammenliegen. "Geschlecht" ist beides, eine ideologische und eine erkenntnisleitende Kategorie, und vielleicht sollte man die Regel einführen, einen geschlechtssensiblen Blick genau dort einzusetzen, wo er gemeinhin nicht vorkommt (bei medizinischer Diagnostik zum Beispiel) und dort zu suspendieren, wo er wie natürlich am Werke ist. Dass die EU-Kommission die alte Geschlechts-Logik im Dienstleistungsgewerbe unterbinden will, tut den betroffenen Branchen weh, und ist gerade deshalb in den Konsequenzen fürs Denken und Rechtsempfinden ein großer politischer Schritt in Sachen Geschlechterdemokratie - sie geht in die Richtung, Geschlecht als eine private, nicht als öffentliche Sache zu behandeln.

Nun ist ein langes Procedere vorgesehen: Der Regelungsvorschlag muss dem Europäischen Parlament zur Beratung vorgelegt und vom EU-Ministerrat einstimmig beschlossen werden, bevor er in nationales Recht umgesetzt werden kann. Für den Zeitraum danach hat die Kommission eine sechsjährige Übergangsfrist zur Angleichung der Preise eingeräumt.

Es bleibt zu hoffen, dass der politische Effekt früher greifen wird, Uni-Sex Tarife bei Frisören zum Beispiel setzen sich derzeit schon feiwillig mehr und mehr durch. Dabei ist das Coiffeur-Gewerbe, wie einige andere ans bestimmte Geschlecht gerichtete Dienstleistungen, gar nicht offiziell von der EU-Richtlinie betroffen. Damenfrisuren seien schwieriger zu erstellen und daher auch berechtigterweise teurer, sagt altbacken die Kommission. Soll sie. Solange Frauen sich einen Herrenschnitt verpassen lassen können und Männer eine Damenondulette, muss das bisschen gender ja nicht stören.


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