Konsonanten kann sie ungefähr seit einem Jahr hören. Sie erkennt, dass jemand "brrrrrr" macht, auch ohne hinzusehen. "Dass ich mich zu dir umdrehe", sagt sie, "ist jetzt pure Höflichkeit." Nicht mehr die Notwendigkeit, die Lippen des Gegenüber nach Lauten abzutasten.
Sie lächelt, lacht. Würde man bei visuellen Metaphern bleiben, müsste man von einer Erleuchtung sprechen. Sie hört jetzt auch Stoffe rascheln; hört Milchschaum knistern, hört, dass eine Türe sich schließt. Sie kann Musik wieder wahrnehmen; wenn ein Violinist über eine Saite streicht, hört sie mehr als nur einen komischen Ton. Sie kann zwischen "nich" und "nicht" unterscheiden, sie kann ein abstruses ugandisches Wort nachsprechen, sie kann telefonieren, und wenn eine Trambahn vorbei fährt, dauert es nicht mehr Sekunden, bis sie wieder anderes hören kann, wirklich hören. Und sie redet lauter seither. Das alte Hörgerät hat ihre eigene Stimme für sie selbst unangenehm laut klingen lassen, so dass sie sie automatisch dämpfte. So sehr, dass sie für andere - wie in Umkehrung der Verhältnisse - immer schwer zu verstehen war.
Barbara ist 34 Jahre alt und seit ihrer Kindheit schwerhörig. Die Erleuchtung ist ein neues Hörgerät, eine technische Entwicklung, die Wunder wirkt. Von einer "Euphorie", die sie gerade erlebt, schreibt sie in einer Mail, "mit üblicher Skepsis der seit 28 Jahren Hörgeräte Tragenden, die mit stoischer Geduld er-trägt, was für Senioren entwickelt wird, teste ich gerade wieder neue Hörgeräte. Testen klingt so unverfänglich, so harmlos, und doch fühlt es sich an, als sollte ich Heiratsverträge unterschreiben, ich, die ich alle Heiratsangebote bisher abgelehnt habe, weil sie immer zu spät kamen."
Barbara fehlen 70 Prozent des Hörvermögens. Alten Menschen geht oft die Fähigkeit verloren, hohe Töne wahrzunehmen. Bei Barbara ist es anders. Ohne Hörgerät kann sie Vokale, aber kaum Konsonanten hören. Fast alles, was sie versteht, hat sie sich aus den Lücken erschlossen. E - Zischlaut - e heißt essen. "Man kriegt ja raus, was fehlt", sagt sie.
Wie ihre Schwerhörigkeit begann - daran erinnert sich Barbara nicht. Auch andere Schwerhörige sagen das: Man merkt nicht, dass es anfängt. Dem Kind hat die Hörminderung keine Angst gemacht, Barbara verlegte sich aufs Beobachten. Dass etwas nicht stimmte, merkten ihre Eltern erst, als sie Werbeslogans beharrlich falsch nachsang: "Schönes Haar ist der dagegen." Knapp sechs war sie damals, und drei Jahre lang nahm die Hörfähigkeit rapide ab, ohne dass man etwas dagegen hätte tun können. Dann blieb sie stehen, bei den besagten minus 70 Prozent. Alle Töne, die Barbara bis dahin gehört und gelernt hatte, konnte sie imitieren, mehr nicht. Den Klang neuer Worte konnte sie nicht lernen, nur die Regeln ihrer Verwendung. So sagte sie eben immer "Kreuzwortsrätsel", weil im Deutschen zusammengesetzte Worte oft mit einem Fugenmorphem verbunden sind - Arbeit-s-amt, Wirt-s-haus. Dass beim Kreuzworträtsel niemand ein "s" spricht, konnte sie nicht wissen.
Barbaras Glück war ihr HNO-Arzt. Der befand: "Die ist so intelligent, die schafft die normale Schule." Schwerhörigenschulen führten damals in Deutschland nur bis zum Hauptschulabschluss - Barbaras Leben wäre ein vollkommen anderes geworden. Dem Unterricht an einer Regelschule zu folgen, war eine unglaubliche Konzentrationsleistung, aber Barbara war gut, sie fühlte sich nicht behindert - die Hörgeräte waren riesig damals - und sie wollte weg aus der ersten Reihe, in die ihre Mutter sie immer setzte. Sie hat Lücken gefüllt, überall. Schlimm waren Diktate, die hat sie abgeschrieben, und schlimm war der Englischunterricht, in dem alle Kinder neue Namen bekamen. Ihrer war Anne, was so nah an "and" lag, dass sie sich permanent angesprochen fühlte.
Fremdsprachen und Namen machten die größten Probleme. Heißt Wassermelone im Italienischen nun "anduria" oder "sanguria" oder "manguria"? Heißt der Herr Thomsen oder Momsen? Englisch, Italienisch und Spanisch hat Barbara sich über Schrift und Lautschrift angeeignet, aber sie hätte keine Sprache lernen können, die neue Laute hat. Natürlich hat sie es aus lauter Dickköpfigkeit mit Türkisch versucht und ihre Dissertation über ein französisches Thema geschrieben, "weil ich die Grenze nicht akzeptieren konnte ..."
Schlecht hören und schlecht sehen, dazwischen liegen Welten", sagt Barbara. "Sieht jemand schlecht, so bemerkt das die Umwelt und begreift die Behinderung - aber dass ein intelligenter Mensch etwas akustisch nicht versteht, begreift man nicht. Bist Du taub oder was? Das ist synonym für: Bist Du blöd?" Eben, schwer von Begriff.
Die Augen kann man komplett schließen, die Ohren nicht, und vielleicht ist es auch deshalb für andere so unmöglich, sich hineinzuversetzen, nachzuempfinden wie Schwerhörigkeit sich anfühlen könnte. Mit dem Gehör, dem Sensorium der Stimme, geht Kommunikation verloren - nicht umsonst sprechen wir von "Zugehörigkeit" - und es entsteht diese Wut auf die anderen, die nicht gescheit artikulieren und einen für einen Trottel halten, und die Wut auf sich selbst, weil die eigene Geschwindigkeit so gebremst ist, weil man nachfragen muss, falsch versteht. Das Hören, dieser enge Kanal, durch den sich ein kulturell hoch differenziertes soziales System vermittelt, ist wesentlich komplexer als das Sehen. "Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte", heißt das falsche Sprichwort.
Barbara hat andere Sensorien entwickelt als das Hören, sie lässt sich von Bildern leiten, und es ist fast erschreckend, wie viel und vor allem, wie schnell sie sieht. Im Straßenverkehr erkennt sie mit geschätzter fünffacher Geschwindigkeit, was auf Plakaten und Anzeigentafeln steht. Ihre Eltern, Hobbyornithologen, nahmen sie immer mit auf die Waldspaziergänge, und das für Vogelstimmen taube Kind sollte suchen, was die anderen hörten. Kein Problem, da oben sitzt doch die Heckenbraunelle.
Weil ihre Schwerhörigkeit genau in der Zeit auftrat, als Barbara in die Schule kam, wurde das Lesenlernen zur Erlösung. Im Text hatte sie die Worte vollständig, in Büchern konnte sie sehen, was sie nicht verstand, vor allem gab es Lexika, in denen man nachschlagen konnte, was die von den endlosen Barbara-Fragen entnervte Mutter nicht mehr beantworten wollte. "Ich lese extrem schnell, so schnell, dass es die meisten Menschen frustriert."
Sprachklang dagegen hat wenig Bedeutung für sie, Barbara hört die Nuancen nicht, und auch ihre eigene Stimme ist linear, ohne starke Modulation, was manchmal irritierend wirkt und sie für andere schwer einschätzbar macht. "Ich spreche, wie ich möchte, dass mein Gegenüber spricht - präzise", sagt sie, die lange Zeit auch die analogen Hörgeräte den digitalen vorgezogen hat, weil sie nicht schöneren Klang hören will, sondern genau verstehen.
Sie hat sich daran gewöhnt, andere Codes zu lesen als das gesprochene Wort. Sie deutet Menschen anhand ihrer Gesten, Mimik, Körpersprache, und sie stellt sich auf jeden einzeln ein. Barbara beobachtet. Sehr wahrscheinlich wäre sie ein extrovertierter Mensch, aber die Schwerhörigkeit zwingt sie, erst zu schauen, um zu erspüren, wie wer agiert. Und natürlich sieht Barbara auch im Zwischenmenschlichen mehr als andere. Vor allem nimmt sie wahr, wenn Menschen etwas verschweigen.
Das Gehör warnt, es verrät, was noch nicht im Blickfeld ist. Sich nicht auf diesen Sinn verlassen zu können, macht unsicher, viele Schwerhörige werden misstrauisch, deshalb. Barbara allerdings hat so früh an Gehör verloren, dass sie nicht weiß, wie es wäre, auf ihr Gehör zu vertrauen. Aber entspannt ist sie erst, wenn sie die Hörgeräte abnimmt, beim Schwimmen zum Beispiel. Auch nachts vor dem Schlafengehen legt sie sie ab und wird dann sofort sehr müde. Vielleicht ist es so, dass die Stille sie wie ein schützendes Dunkel umgibt.
Hörgeräte sind Prothesen, sie können das normale Hören - diese Wundermechanik aus Luftraum, Haut, Knöchelchen, Flüssigkeit und Härchen, die über Druck Impulse an den Gehörnerv weiterleiten - nicht wieder herstellen und auch nicht imitieren. Sie machen nur lauter. Hörgeräte sind reine Verstärker.
Das eigentliche Ohr aber ist das Gehirn, das bei Hörschädigung nur fragmentierte Informationen bekommt. Es geht dabei meist auch die Fähigkeit verloren, Töne zu differenzieren, den Nutzschall vom Störschall zu unterscheiden. Schwerhörige, heißt es oft, hören, aber sie verstehen nicht. Zum Beispiel, wenn beim Gespräch in einer Kneipe die Nebengeräusche genauso laut erscheinen, wie der Gesprächspartner. Herkömmliche Hörgeräte, könnte man sagen, helfen dem Ohr, aber sie behindern das Gehirn, eine Wertung vorzunehmen, jedenfalls dann, wenn jedem Ohr unabhängig nur ein Verstärker aufgesetzt ist.
Barbaras neues Hörgerät mit dem Namen Epoq, hergestellt von einer dänischen Firma, ist eine Revolution, weil es sagenhaft viel auf einmal tut. Es hat schnelle Chips und regelt den Ton in Nullkommanichts hoch und runter, es reagiert auf einen sehr weiten Frequenzbereich, es hat ein kleines Löchlein, um Schall auch wieder aus dem Ohr herauszulassen und damit den dumpfen Klang zu mindern, und es funktioniert "binaural". Das heißt, dass die beiden Hörgeräte rechts und links intelligent miteinander interagieren, sie "kommunizieren" sozusagen, zum Beispiel über die Intensität eines Geräuschs und seine Geschwindigkeit, auch über die Laufzeitunterschiede zwischen rechts und links, und sie sind - bei guter Einstellung durch den Akustiker - dem geschädigten Ohr so angepasst, dass das Gehirn wieder die nötigen Informationen bekommt, um zu "hören". Deshalb erkennt Barbara jetzt diese Töne, das Knistern, das Knattern, die Konsonanten.
Ein Motorradfahrer fährt vorbei - Barbara ist noch immer in der Euphorie. Früher hätte sie nicht wahrnehmen können, aus welcher Richtung er kommt und in welche er fährt, und es hätte Sekunden lang gedauert, bis sie wieder etwas verstanden hätte, danach. Sie denkt an ihre Gereiztheit, die Wut, wenn zum Beispiel in einer Vorlesung jemand neben ihr einen Kugelschreiber fallen ließ und sie wegen dieser Lappalie die nächsten Sekunden des Vortrags verpasste, weil das Hörgerät den lauten Ton erst herunter dimmte und dann gefühlte Ewigkeiten brauchte, bis es wieder auf Normalmaß war.
Früher hat sich ihr Hören angefühlt wie ein Filter, der von einem Gemälde liegt und nur einzelne Punkte des Bildes sichtbar lässt. Jetzt, sagt sie, sind es Mosaiksteine. Und sie hört den Wind und die Haare um den Kopf nicht mehr so aufdringlich. "Die Haare", sagt sie, "waren immer viel zu laut."
Das neue Wunderding kann sogar Sachen, die einen Normalhörenden neidisch machen - per Bluetooth sendet es Musik oder Telefongespräche direkt ins Ohr, der Cyberkörper empfängt Töne, die gar nicht hörbar sind. Seit gut einem Jahr trägt Barbara das Gerät jetzt, und mittlerweile, sagt sie, hat sie sich so sehr ans gut Hören gewöhnt, dass sie wieder schlechter hört.
Die Anspannung hat nachgelassen und das permanente Auf-der-Hut-sein, und dann vergisst sie, die mehr gesehen hat, als andere hörend wahrnehmen, dass sie einmal aufmerksamer als andere war. Jetzt setzt bei Barbara das ein, was alle kennen: Das Nichthören, obwohl man hört.
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