der Freitag: Herr Hagner, in Ihrem Buch „Zur Sache des Buches“ gibt es einen Satz, der klingt, als wollten Sie vor einer Verdrängung von Menschen durch Maschinen warnen: „Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die wichtigsten Leser im Netz nichtmenschlich sind, es sind Maschinen selbst, deren Lesefähigkeit durch Algorithmen gesteuert ist.“ Wollen Sie sagen, dass das Netz gar nicht für Menschen gemacht ist?
Michael Hagner: Natürlich ist das Netz für Menschen gemacht, für solche, die einen schnellen Zugang zu Fakten, Informationen oder Nachrichten haben wollen. Offensichtlich werden aber auch viele Texte, die im Netz stehen, insbesondere solche, die als XTM- oder XTL-Files zur Verfügung stehen, im Wesentlichen gar nicht von Menschen gelesen, zumindest nicht von vorn bis hinten. In der Hauptsache werden sie von Computern behandelt wie alles, was man ihnen vorsetzt: Texte werden auf Daten heruntergebrochen. Die Lust am Text wird zur List des Quantitativen.
Also Maschinen lesen keine Bücher ...
Maschinen lesen keine Bücher, sie lesen Daten.
Es sind Datenmengen, die wir mit menschlichen Kapazitäten nicht bewältigen könnten.
Überhaupt nicht. Nehmen wir den Literaturwissenschaftler Franco Moretti, der mittels Datenanalyse bestimmte Muster in viktorianischen Romanen untersucht, etwa ob sich Geschichten vom Land in die Stadt verschieben. Dazu benutzt er rund 10.000 Romane, die natürlich kein Mensch lesen kann und auch nicht lesen will, weil sie so schlecht sind. Aber mit Data-Mining lassen sich bestimmte Informationen herausholen. In der Physik, in der Chemie, in allen naturwissenschaftlichen Fächern und auch in der Computerlinguistik wird diese Methode seit einiger Zeit angewendet. Und jetzt ist sie in den Geisteswissenschaften angekommen. Es ist eine offene Frage für mich, wie weit sie hier tragen wird. Ich glaube, in einigen Bereichen kann der Umgang mit Big Data sehr interessant sein, in anderen scheint er mir eher trivial. Das Problem ist aber, dass ganz neue Ökonomien entstehen und mit ihnen eine neue hierarchische Aufteilung des wissenschaftlichen Betriebs. Diejenigen, die sich mit Computern auskennen, programmieren können und im Bereich des Data Mining aktiv sind, werden zumindest für einige Zeit einen großen Anteil am symbolischen und ökonomischen Kapital einstreichen können.
Zur Person
Michael Hagner, 55, ist Mediziner und Wissenschaftshistoriker. Bekannt wurde er in den Nullerjahren durch seine Werke zur Hirnforschung. Sein jüngstes Werk Zur Sache des Buches (2015) erschien im Wallstein-Verlag
Foto: Karlheinz Schindler/dpa
Sie schreiben: „Souverän ist, wer über den effektivsten Server verfügt.“
Ich habe bewusst diese scharfe, historisch aufgeladene Formulierung gewählt. Sie betrifft neben dem politischen und militärischen Bereich auch den ökonomischen, beispielsweise die global agierenden Wissenschaftsverlage, die sich inzwischen eher als digitale Informationsmanager neu erfinden. Man muss unbedingt verhindern, dass diese Unternehmen über die Rechte an all den Daten verfügen, die Wissenschaftler produzieren. Wenn Zur Sache des Buches oder Der Hauslehrer, mein vorangegangenes Buch, tatsächlich als Creative Commons verfügbar wären, könnten irgendwelche findigen Akteure sich die Story nehmen und daraus etwas Eigenes machen. Dazu müssten die mich nicht mal fragen, müssten nur meinen Namen nennen und könnten ansonsten mit der Story machen, was sie wollen. Wenn sie damit – jetzt mal fiktiv gesagt – ein paar Millionen verdienen, dann ist das deren Sache und nicht meine.
Es passiert doch auch in der analogen Welt, dass Ideen geklaut werden ohne Ende.
Ideenklau hat es immer gegeben, aber nun kommt noch eine weitere Dimension hinzu. Wenn jeder mit jedem Text machen kann, was er will, gibt es keine Autorenrechte mehr. Gewiss wird sich in absehbarer Zeit ein neuer Berufszweig der Cultural Data Scientists entwickeln, vertreten von Informatikern, die wissen, wie man mit Big Data umgeht und das Ganze dann auf den Kulturbereich übertragen. Die narrativ arbeitende Content-Industrie, die auf mehr oder weniger gehobene Unterhaltung aus ist, wird sich dieser Ressourcen bedienen, um damit Geld zu machen.
Wie verändert sich der Leseprozess selbst, die Rezeption von Texten durch die Digitalisierung?
Das ist sehr schwer zu sagen. Auf der einen Seite stehen die Pessimisten, Kulturkritiker wie Nick Carr, der von „digitaler Demenz’“ spricht und meint, wir verlernten das eigentliche Lesen, weil wir am Computer nur noch oberflächlich überfliegen. Andere bestreiten das und meinen, man habe darüber hinaus über Hyperlinks auch die Möglichkeit, das Textverständnis zu erweitern und zu überprüfen. Im Moment ist die Diskussion sehr unübersichtlich. Mit Sicherheit kann man aber sagen, dass durch das Lesen am Bildschirm oder am Tablet niemand ein besserer, genauerer, sorgfältigerer oder präziserer Leser geworden ist.
Es gibt Vorteile der digitalen Form ...
... ergonomische – ich kann die Schriftgrößen angleichen, wenn meine Sehkraft nachlässt – und platzökonomische: Ich kann den ganzen Dostojewski auf meinem E-Reader mit in den Urlaub nehmen. Das ist in Ordnung. Doch beim Text auf Papier ist eine andere Sensomotorik im Spiel: Dieses Lesen arbeitet mit Fingern und Augen. Es handelt sich dabei um vollkommen andere Vorgänge als solche im Umgang mit einem Tablet.
Sie vertreten die starke These, dass die Geisteswissenschaften ohne Papier in Zukunft nicht existieren können.
Richtig, und das liegt ganz schlicht daran, dass ich noch keinen einzigen Text von mehr als 200 Seiten gelesen habe, der nur digital vorliegt und etwas taugt. Es gibt unendlich viele gute lange Texte im Netz, aber die sind gedruckte Bücher gewesen. Es gibt auch zahlreiche tolle kurze Texte, die nur im Netz greifbar sind. Doch wo ist der umfangreiche, großartige Text, der ausschließlich im Netz existiert? Mag sein, dass sich das ändert, aber im Moment sehe ich das nicht.
Die materielle Form beeinflusst also den Inhalt?
Ja, ich glaube, man schreibt anders, man schreibt sorgfältiger und passionierter, wenn man die Vorstellung hat, er werde irgendwann als gedrucktes Buch erscheinen. Die Liquidität digitaler Texte ist von denjenigen, die das Netz verteidigen, immer wieder in Stellung gebracht worden gegenüber dem schwerfälligen, langweiligen und problematischen Buch. Dem kann man dann nur entgegnen: „Jaja, es gibt viele schlechte Bücher, das ist richtig, aber es gibt von allem auf dieser Welt sehr viel Schlechtes.“ Es gibt auch sehr viel mehr schlechtes Essen als gutes.
Millionen langweiliger gedruckter Bücher sind also kein Argument gegen das Buch an sich.
Nein, das kann kein Argument sein, und die hochgepriesene Liquidität digitaler Texte hat nach 15 Jahren ihrer Existenz in den Geisteswissenschaften weder zu einem bahnbrechenden neuen Denken noch zu sonst irgendeiner Revolution beigetragen. Verstehen Sie mich recht: Es gibt kein absolutes Argument für das gedruckte Buch, und ich würde auch nicht sagen, dass ein Smartphone oder Tablet unter anthropologischen Gesichtspunkten eine größere Entfremdung vom Menschlichen – was immer das sein mag – darstellt als ein gedrucktes Buch. Diese Art von Kulturkritik teile ich nicht. Die Frage ist eher: Was können wir mit einem bestimmten Medium, mit einem bestimmten Instrument erreichen? Man kann sich auch mit einer Zahnbürste den Rücken schrubben, aber es ist sehr mühselig. Deswegen ist es besser, kleine und größere Bürsten zu haben, also auch verschiedene Medien für jeweils verschiedene Formen des Lesens und Schreibens. Aber manche Leute gehen so weit, zu behaupten, wir bräuchten das analoge Lesen nicht mehr.
Es kann ja durchaus passieren, dass es uns abhanden kommt.
Einige der ganz Gewitzten behaupten auch, wir bräuchten diese Einzelkämpfermentalität nicht mehr, mit der jemand ein Buch schreibt, das dann sowieso nach ein paar Jahren überholt ist. „Wir machen das jetzt viel besser“, sagen sie, „indem wir in Gruppenarbeit vorgehen und unsere Texte im Netz schreiben, die sind jederzeit kritisierbar und veränderbar: Ist doch großartig.“ Das sind Vollidioten! Weil sie einfach nicht auf ihrem Speisezettel haben, dass das, was in den Geisteswissenschaften in den letzten 150 oder 200 Jahren passiert ist, ganz maßgeblich durch Bücher von einzelnen Personen gestaltet wurde. Wenn wir diese Form der Autorschaft aufgeben, dann verabschieden wir uns von einer Kulturtechnik und einer ganz bestimmten Art und Weise der Artikulation unseres Zugangs zur Welt. Auf den bin ich persönlich nicht bereit zu verzichten. Wenn andere drauf verzichten wollen, muss ich sagen: „Okay, das ist eine akademische Welt, in der ich lieber nicht leben möchte.“
Dieses Interview ist ein Vorabdruck aus der Zeitschrift Wespennest (Nr. 169) zum Schwerpunkt „Mensch und Maschine“, die im November erscheint
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.