Das eigentlich Interessante an der Figur Jürgen Habermas, könnte man lakonisch sagen, ist ihr langes öffentliches Leben. Dass es einem trockenen Philosophen gelingt, über mehr als sechs Dekaden publizistisch-politisch zu intervenieren, ohne aus der Zeit zu fallen, ohne unter Niveau zu gehen und ohne komplett konservativ zu werden, das ist beeindruckend.
Sechs Dekaden! Das schafft sonst gerade mal die Queen. Am Mittwoch wurde Jürgen Habermas 85 Jahre alt. Pünktlich zum Jubiläum erschien eine monumentale Biografie, geschrieben vom Soziologen Stefan Müller-Doohm. Der Autor kennt seinen Stoff aus dem Effeff., vor zehn Jahren brachte er eine (noch dickere) Theodor-W.-Adorno-Biografie heraus, er publizierte zur Frankfurter Schule und auch zu Jürgen Habermas. Für das vorliegende Buch hat Müller-Doohm eine enorme Menge an Materialien zusammengetragen; er zitiert aus Zeitungsartikeln, Forschungsberichten, Rezensionen von und über Habermas, aus seinen Werken, Leserbriefen, Laudationes, Kongressberichten, Gesprächen und aus seiner Korrespondenz.
Müller-Doohm arbeitet als genauer Chronist, und wenn er auch mit manchen Details zu viel des Guten tut – „ Ausflüge in die reizvolle Voralpenlandschaft stehen an Wochenenden auf der Tagesordnung“ – , verwebt er doch die Beschreibungen der Entwicklung des Werks, der Universitätskarriere und des öffentlichen Wirkens von Habermas mit Vor- und Rückverweisen geschickt, so dass sich ein gut lesbares, homogenes Ganzes ergibt. Mit dem Lebenslauf von Habermas wird hier auch die Geschichte der Bundesrepublik erzählt.
Wer die Zeit miterlebte oder auch das akademische Personalkarussell der Philosophie- und Soziologenszene kennt, dem beschert das Buch etliche Wiedererkennungseffekte. 1929 geboren, ist Habermas Teil der „Flakhelfer-Generation“, deren Jugendsozialisation in die NS-Zeit fiel, die aber das Glück haben konnte, sich biografisch nicht zu tief zu verstricken und – wenn sie akademische Wege ging – im intellektuell leergefegten Nachkriegsdeutschland schnell Gestaltungsmöglichkeiten fand. Die Abgrenzung von der NS-Zeit und das Eingedenken deutscher Schuld deutet Müller-Doohm als zentrales Movens dieser Biografie.
Habermas studierte größtenteils an der philosophischen Fakultät in Bonn, die nach 1945 immer noch braun war, nach nur neun Semestern promovierte er mit einer Arbeit über Schelling, schlug sich dann eine Zeit lang als freier Journalist mit Rezensionen für die FAZ durch. In dieser Zeitung verfasste er 1953 auch seinen ersten publizistischen Aufreger, eine Kritik an der Neuauflage einer Heidegger-Vorlesung, die fast ungebrochen an den Tonfall von 1935 anschloss, als wäre nichts gewesen.
Knackpunkt Linkssein
Durch Vermittlung lernte Habermas den führenden kritischen Theoretiker Adorno kennen, wurde dessen Assistent am berühmten Frankfurter Institut für Sozialforschung und gab diese Stellung zugunsten einer Professur in Heidelberg auf. Es folgt die steile Karriere. Habermas wird Nachfolger auf dem Horkheimer-Lehrstuhl in Frankfurt, dann Direktor des Max-Planck-Instituts in Starnberg, kehrt später auf eine Professur nach Frankfurt zurück und wird – dann schon als Emeritus – zum hundertfach mit Preisen überhäuften „berühmtesten lebenden Philosophen der Welt“, wie Ronald Dworkin waschzetteltauglich zum 80. Geburtstag von Habermas formulierte.
Müller-Doohm beschreibt dieses Leben als philosophische Entwicklungsgeschichte, als Karriere, aber auch als eine Abfolge gesellschaftlicher Debatten: Positivismusstreit 1961, Hochschulreform und Studentenbewegung ab 1968, Deutscher Herbst 1977, Friedensbewegung in den 80ern, Historikerstreit 1986, die Diskussionen um Bioethik Ende der 90er Jahre, die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin, um Religion und Vernunft nach dem 11. September 2001, die Europa-Verfassungsdebatten: Immer ist Jürgen Habermas dabei, er bleibt im Ring.
Der Knackpunkt aber liegt im Linkssein. Die Überzeugung, dass es eine Rationalität vor aller Politik gebe, dass Politik der Vernunft zu folgen habe und nicht umgekehrt, macht Habermas zu einem sehr gemäßigten, eben liberalen Linken. Daher muss er von beiden Seiten, links wie rechts, Schläge einstecken. Dramatisch zeigt sich das in der Phase nach 1970, als Habermas zermürbt von den Auseinandersetzungen der Studentenrevolte – er hatte Rudi Dutschke „linken Faschismus“ vorgeworfen – Frankfurt verlässt, um gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker in Starnberg das neu gegründete Max-Planck-Institut zur „Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“ zu leiten. Dieser Schuh, so hat man den Eindruck, ist zu groß und hochglanzpoliert. Habermas steht unter enormem Leistungsdruck, das Arbeitsklima in seiner Forschungsgruppe sei extrem schlecht gewesen, zitiert Müller-Doohm einen Mitarbeiter, jeder „habe den anderen insgeheim für einen Idioten gehalten“.
Zudem verweigert die Münchner Universität Habermas beharrlich den Titel als Honorarprofessor, denn in Bayern gilt er als Neomarxist, als „Sturmvogel der Kulturrevolution“ (Franz Josef Strauß). Entnervt gibt er nach zehn Jahren auf und geht wieder nach Frankfurt. Die feine, aber harte Linie verläuft zwischen linksliberal und liberalkonservativ. Mit den Liberalkonservativen liefert sich Habermas zeitlebens die harten, hinreißend polemischen Gefechte.
Müller-Doohms Buch enthält nichts Kompromittierendes, man könnte ihm vorwerfen, zu affirmativ, zu „brav-offiziös“ vorzugehen, wie die Zeit vermerkte. Doch das Material, das er ausbreitet, lässt sich kritisch lesen. So erscheint Habermas eben auch als ein geschickter Manager seiner öffentlichen Wirkung. Er hat das Hochfeuilleton – Zeit, FAZ, Süddeutsche – zu seiner Verfügung, er kennt alle wichtigen Menschen und er lenkt als Berater und Autor die Publikationspolitik des Suhrkamp-Verlags. Wenn dort ein kleiner Poet eine negative Zeile über Habermas schreibt, ruft Ehefrau Ute beim eng befreundeten Verleger Unseld an und verlangt, dass der Gedichtband aus dem Programm genommen werde. Das geschieht dann postwendend.
Das große, reiche Denken von Habermas hat natürlich blinde Flecken. Aufgrund seiner Erfahrung des Bruchs nach 1945 ist für ihn Westbindung der Garant für Demokratie und Versicherung gegen den Rückfall in deutschen Nationalismus. Daran hält er unverbrüchlich fest. Es fehlt daher eine Auseinandersetzung mit der DDR, es fehlt der Osten, es fehlen aber auch Frauen als intellektuelle Akteurinnen. Als einzige Habermas-Schülerin ist im Buch Cristina Lafont erwähnt. Das ist kein Zufall, sondern hat viel mit einer bestimmten Diskurskultur zu tun, in der sich Frauen nicht gut halten, und mit einer Philosophie, die unter dem Anspruch, universale Aussagen zu machen, ziemlich vieles meint ignorieren zu können.
Der archimedische Punkt
Sprache ist für Habermas der archimedische Punkt. Er hat sich – und das kann man verstehen – nicht im „Grand Hotel Abgrund“ der alten Frankfurter Schule einrichten wollen, und seine „kommunikationstheoretische Wende“ war zugleich eine Abkehr von deren negativistisch verfallsgeschichtlichem Geist. Die Sprache hat einen rationalen Kern, das ist die gute Nachricht. Daher ist Verständigung möglich, Einigung im Diskurs, eine Selbstaufklärung der Vernunft. Daher ist aber auch Publizität so wesentlich für Habermas, der ja im Medium der Öffentlichkeit Theorie und Politik verbindet. Öffentlichkeit ist der Wahrheitsgarant seiner Theorie.
Man mag Habermas’ Haltung für falsch, idealistisch oder auch für zu vernünftig halten. Oft kommt ja ein ziemlich technizistisches Gebräu dabei heraus. Andererseits hat sein Glaube an die rationale Kraft der Sprache uns öffentliche Debatten von so hohem Niveau beschert, dass allein der Rückblick, den Müller-Doohm gibt, schon sentimental stimmen kann. Hier denkt einer politisch, doch der Kern dieses Denkens liegt jenseits der Politik, in der Philosophie eben, im Himmel der Geltungsgründe. Habermas war und ist auch ein Modell dafür, wie man auf bürgerliche Weise – im ordentlich gebügelten Anzug sozusagen – für linke Positionen argumentieren kann. Es ist, als schlüge das Herz der Vernunft doch irgendwie links. Was für ein Gedanke!
Dieses ganze Panorama und noch viel mehr breitet Müller-Doohms Buch aus. Es soll und wird wohl die maßgebliche Habermas-Biografie sein. Der Autor kritisiert und beurteilt nicht, er verschwindet gleichsam hinter seinem Material, lässt aber genug Freiheit, es zu lesen und einzuordnen, wie man will. Das mag bieder erscheinen, aber das Verfahren geht auf und entwickelt seine eigene Spannung. Wer hätte das gedacht bei einem Leben, das Habermas selbst als „unheroisch“ bezeichnet hat.
Jürgen Habermas. Eine Biografie Stefan Müller-Doohm Suhrkamp 2014, 750 S., 29,95 €
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