Ein Vogel innen

Alltag Wolfgang verkauft Obdachlosenzeitungen.Doch das ist nicht sein Problem

Er ist ein freundlicher Mensch. Wünscht "guten Appetit die Dame", bevor er die Motz hervorkramt. Ob man Interesse habe an der neuesten Ausgabe der Obdachlosenzeitung, 1,20 der Preis, 80 Cent davon gehen an den Verkäufer.

Wie sich einer fühlt, dem es eh schon nicht gut geht. Permanent etwas anbieten müssen, was kaum einer will. Wie sich einer fühlen muss, der auf leere Gesichter zugeht, die wegsehen. Oder die ihn anblicken und den Kopf schütteln oder ein Almosen geben zum Freikaufen, damit du wieder gehst. Die aber die Zeitung nicht wollen, nicht das mindeste Interesse an dem haben, was du anzubieten hast; dieser kleine Wisch, ein Lendenschurz vor dem, was nackt doch betteln wäre.

Wie sich einer fühlt? Nicht schlecht, sagt Wolfgang, das zweitbeste am Motz-Verkaufen sei der menschliche Kontakt. Rangiert gleich hinter dem erstbesten am Motz-Verkaufen, dem Geldverdienst. Meist steht Wolfgang vor einem ganz bestimmten Supermarkt, er hat da seinen festen Platz und kennt die Leute, viele sind nett, und wenn ihm einer doof kommt, wie dieser Typ, der sicher mal Polizist gewesen ist, dann sagt Wolfgang zu sich selbst: was hat denn der für ein Problem? Penetranz ist nicht sein Stil, eher umgekehrt fühlt er sich von manchen Kunden regelrecht bedrängt, die sind ja auch einsam und stellen sich eine halbe Stunde vor ihn hin und quatschen ihn voll mit Hartz IV. Da muss er aufpassen und sich abgrenzen, sonst geht´s ihm schlecht. Aber das ist sowieso nicht seine Hauptbeschäftigung, die Zeitung. Herrgott nein, dafür ist er viel zu hyperaktiv. Er verkauft nur, wenn er Geld braucht, 15 bis 20 Euro am Tag macht er damit, reicht ja. Nein, das Motz-Verkaufen ist nicht sein Problem.

Zur Welt gekommen ist Wolfgang in einem bayerischen Frauenknast. "Ich sag immer, ich hab mit die Mädels kein Problem", passt da als Witz. Wolfgang ist das Produkt eines "Seitensprungs". Warum seine Mutter einsaß, weiß er nicht, denn bevor er wirklich mit ihr hätte reden können, hatte sie bereits den "den Freitod vorgezogen". 1963 war das, da war Wolfgang drei. Bis dahin hatte er im Heim gelebt, nun kam er, der kleine Bastard, zur Familie seines Vaters. Hier wurde er auf wundersame Weise das geliebte Stiefkind der betrogenen Ehefrau: Erika*, "eine ganz a liebe, liebe Frau", nahm ihn auf und erzog ihn zusammen mit seinen zwei Stiefschwestern. Vier Jahre später jedoch kam jene andere Frau, die er nicht "meine Tante" nennt, sondern "Schwester meiner Mutter". Eine Pflichtadoption sei es gewesen, er musste mit zu Greta aufs Land, und wenn er diesen Wechsel in Farben beschreiben sollte, so wäre das der Übergang gewesen von warmen, gelben Tönen zum eiskaltem Grau.

Zehn lange Jahre lebte Wolfgang allein bei Greta und sehnte sich nach Erika und seiner alten Familie, dann wurde er mit 17 selber Vater und zog aus. Seiner Tochter gab er einen jüdischen Namen, der "Mädchen" bedeutet. Er sei immer für einfache Namen gewesen, ein Mädchen heißt eben Mädchen. Mit 19 heiratete Wolfgang die Mutter seines Kindes, mit 20 war er wieder geschieden, die Tochter gab er später, als es schlimmer wurde, zur Adoption frei. Mit den Frauen ... ja, das ist so eine Sache. Es habe mal ein Therapeut zu ihm gesagt, dass er mit den Frauen - ohne es zu wollen natürlich, ohne es zu wollen - dasselbe mache, was die mit ihm gemacht hätten damals: verlassen.

Aber Wolfgang war in Lohn und Brot, gelernt hatte er "Handwerksmechaniker" und arbeitete für sechs Jahre im öffentlichen Dienst im Heizungssystem einer Kaserne. Überhaupt hat er 20 lange Jahre seines Lebens gearbeitet, will er mal sagen. Er rauchte Hasch damals und schluckte Amphetamine in großen Mengen, und sein Chef hat ihn geliebt, na klar, denn Wolfgang arbeitete für zwei, ein richtiger Malocher auf Speed. Dummerweise wurde er erwischt, weil er "über Holland gefahren" war. Das war nun wirklich nicht im großen Stil, er wohnte an der Autobahn, ein Kumpel hatte ein Auto, man besorgte das Zeug für Freunde, er ist kein großer Verbrecher, er sagt: "Ich bin a Hühnerdieb". Sein Arbeitsverhältnis wurde gekündigt und Wolfgang musste - als Bewährungsauflage damals - in Therapie. Es war seine erste und er nennt sie "Gehirnwäsche". Nachdem er da raus kam, abgebrochen hat er sie nach einigen Monaten, war nichts mehr wie früher. Vorher hatte er friedlich sein Zeug geschluckt, nach der Therapie aber hat er von sich selbst gesagt: Ich bin süchtig. Seht her, ich nehm doch keine Amphetamine. Er nahm Schlimmeres.

"In mir ist ein Vogel, der sagt flieg!" 1993 ging Wolfgang, der seinen bayerischen Akzent auch heute noch nicht los ist, nach Berlin. Er "war druff", auf Opium oder Kokain oder Heroin, und landete 1995 wieder im Entzug samt Therapie, lernte Corinna kennen. Und weil Frauen im Entzug ganz besonders empfänglich sind "wirklich, da gibt es Untersuchungen zu", zeugte Wolfgang seine zweite Tochter, Mia, auch ein einfacher Name. Mit der Corinna ging es nicht lang, ein halbes Jahr oder so, aber um die Mia habe er sich in den folgenden fünf Jahren intensiv gekümmert. Wenn er über Kinder redet, lacht er, strahlen seine Augen. Es waren Jahre, "die waren so easy", er hat alles geschafft, Bilder gemalt und ausgestellt, es waren die fünf Jahre in denen er clean war. Gearbeitet hat er vor allem bei Umzugsunternehmen, sich ausgepowert, überhaupt, wenn er Chef wäre, er würde nur Ex-Jukies einstellen, die arbeiten wie verrückt, die brauchen das, die wissen nicht wohin mit ihrer Energie, die müssen Zentner in den vierten Stock schleppen und noch mal und noch mal, die brauchen das, das ist gut für die. Er hat auch Bungee-Jumping gemacht in der Zeit, mehr als 2000 Mark hat er ausgegeben um immer wieder springen zu können, er suchte den Kick, immer wieder.

Clean war er und begann eine Umschulung als Werbemedienvorlagenhersteller, so hieß das, und es ging ihm gut damit, und dann gab es dort einen Tag der offenen Tür, und er hat einen Preis gewonnen, sein Plakat war das beste, das hat ihn umgehauen, da wusste er "ich bin gut", und dann war Silvester 2000 und noch so eine Geschichte mit einem Mädel und alles war prima und da hat er sich einfach einen Hit machen wollen, weiß und braun, 40 Mark für Heroin, 60 für Kokain, beides kurz hintereinander genommen, er ist mehr der schnelle Typ, es soll kommen wie ein flash, kennst du das, wenn eine Sekunde so lange dauert wie zwei, weiß und braun, das ist die "Königin der Gefühle", das schnelle, rasende Erleben. Weiß und braun, Erika und Greta, Liebe und Hass, er ist ein extremer Mensch. Fallschirmspringen hat er noch nicht probiert, einen Extremsport wird er machen auf jeden Fall, etwas, was sofort reinhaut, ohne dass man sich anstrengt, er wäre kein Marathonläufer, er hat ja auch nicht Kokain geschnupft, er hat´s gespritzt, Fallschirmspringen wird er machen, wenn er wieder clean ist, aber er ist nicht clean, denn seit diesem Silvester 2000 ist er "wieder druff".

Verdammt, er war doch mal so weit, aber jetzt ist er 44, es fehlen ihm die Zähne und er steht wieder vor dem Ruin, er ist doch nur noch ein Zombie. Die Umschulung wenigstens hat er abgeschlossen, er ging ins Methadonprogramm, "damit hab ich dem Teufel sein Arsch angeguckt". Die Dealer in Weiß, die Ärzte, sind nicht da, wenn man sie braucht, und Methadon ist chemisch, Methadon reicht nicht und - er senkt die flache Hand waagerecht nach unten - Methadon drückt dir die Seele zusammen. So.

Er möchte sich nicht abheben, sagt er, aber es geht ihm besser als manch anderen Motz-Verkäufern. Kann schon sein, dass er da ein bisschen arrogant ist, Arroganz findet er nicht so gut, nun ja, vielleicht ist er doch ein bisschen arrogant, dann ist das halt so. Er denkt, er kann die Leute auch manipulieren, zum Kaufen verführen. "Wenn ich einem in die Augen gucke", sagt er, "hab ich den schon festgenagelt. Aber ich nutze das nicht aus, ich lasse immer frei entscheiden." Charme hat er ja. Wenn Wolfgang durch die Cafés geht, sieht er gleich, wen er wie ansprechen kann. Und manchmal hat er auch ein Problem damit, dass man ein Problem mit ihm hat. "Momentchen mal, ich habe Sie ganz höflich gefragt", sagt er dann oder er denkt sich: "der hat mehr zu verlieren als ich." Am dümmsten ist´s, wenn Leute Mitleid mit ihm haben, weil die ihm dann ihrerseits Leid tun und er versuchen muss, sie aus der Verlegenheit zu retten. "Du musst nichts kaufen", sagte er mal zu einem Mädchen und die antwortete "du bist auch nett". Das hat ihn sehr gefreut.

Interesse an der Motz haben die wenigsten, aber das stört ihn nicht, ihm geht´s ja auch eher ums Geld, und er freut sich, wenn er ein Exemplar sozusagen mehrmals los wird. Für 40 Cent das Stück kauft er im Motz-Bus am Nollendorfplatz seine Zeitungen ein, was danach mit ihnen passiert, ist seine Sache.

Strategien der Abschottung, natürlich. Es läuft nur gut, wenn es ihm gut geht, oder sagen wir so: Alles hängt davon ab, wie er sich fühlt. Wenn er gut drauf ist, kriegt er alles, wenn man aber merkt, dass er unbedingt was braucht, dass er unter Druck ist, dass es dringend ist, dann läuft gar nichts. Rasch geht er durch die Cafés, checkt ab, wer hinguckt und wer nicht, wer zögert, wen er ansprechen kann, wer noch Zeit braucht, dann sagt er "ich komm noch mal wieder". Aber nicht zu langsam durchgehen, das wird sonst schmerzhaft. Und natürlich: "ganz nüchtern" könnt er´s nicht, ein bisschen was hat er intus, wenn er verkauft. Und er kennt keinen Straßenzeitungsverkäufer, der nicht "druff" ist. 80 Prozent von denen, schätzt er, sind ganz auf harten Drogen. Nein, er möchte sie nicht missen, die Erfahrung mit der Motz, aber wenn er clean wär, wirklich, würde er nicht verkaufen, dann könnte er ja wirklich etwas anderes machen.


Jetzt aber steht er am Scheidepunkt. Er ist von einer Therapie in die nächste geschlittert, von einer Bewährungsstrafe in die andere. Jetzt geht nur noch Knast oder Synanon. Keine Therapie mehr, er lässt sich nicht mehr am Kopf rumfummeln. "Ich hasse meine erste Therapie", sagt er, er hatte gut mit seinen Amphetaminen leben können, und er versteht nicht, wieso ein Richter die Macht haben soll, irgendwelchen Leuten etwas zu verbieten, was doch niemandem schadet, außer ihnen selbst, und in Indien können die alten Männer auch ihr Opium rauchen und es stört niemanden.

Er hat jetzt einen Punkt in seinem Leben erreicht, an dem nur noch Extremes geht. Die Organisation Synanon macht "kalten Entzug", hart, ohne Substitute. Wolfgang hat Angst, aber nächste Woche will er hingehen, er geht ganz sicher. Da bekommt man Wohnung, Arbeit, Essen und muss völlig clean sein, nicht mal rauchen darf man da, das ist verdammt schwer, fast unmöglich. Zwei Zigaretten hat er von der Bedienung geschnorrt während unseres Gesprächs und hat sich schon sehr zusammengerissen.

Wie er auf mich wirke, fragt er. Er sei nicht geerdet im Moment. Ich kann ihn nicht einschätzen. Stimmt seine Geschichte? Vielleicht erzählt er die ganze Zeit nur Märchen. Und wenn schon, macht es einen Unterschied?

Er würde so gern seine Tochter wiedersehen, die Mia, und er wüsste nicht, was er machen würde, wenn die auch mal an Drogen gerät - wie kann er sie bloß davor bewahren? Selber clean werden, bestes Vorbild sein, clean werden oder drauf gehen. Es ist nicht sicher, dass er´s packt, gar nicht sicher. Ich gebe ihm meine Karte. Jetzt geht er noch zum "Kotti", da sitzen Freunde von ihm. Kottbusser Tor ist der trostloseste Platz, das ganze urbane Elend der Sucht frei zur Besichtigung. Wolfgang steigt hinunter in den U-Bahn-Schacht. "Wenn ich clean bin", ruft er, "wenn ich bei Synanon war, dann ruf ich an." Und er hält die Karte hoch wie einen viel zu kleinen Strohhalm.

(*) Namen geändert


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