Einkaufen ist Liebe

Dingmagie Daniel Miller schreibt in "Trost der Dinge" Psychogramme anhand von Wohnungseinrichtungen

Daniel Miller macht sich gerne die Finger schmutzig. Der britische Anthropologe hat sich tief in das vergraben, was seit den späten 1980er Jahren unter dem Namen „material culture studies“ firmiert, und nichts mag er lieber, als die feine akademische Theorie in den „Matsch und die Dunkelheit des Alltagslebens hinunter zu ziehen.“ Miller geht es schlicht um „stuff“, Zeugs also, und so beforschte er Tongefäße in Indonesien, Saris in Indien, Coca Cola in Trinidad, Mobiltelefone und Autos auf Jamaika, oder Kücheneinrichtungen in London.

In einer Studie, aus der das glänzende Buch A Theory of Shopping hervorging, folgte er etlichen Familien in den Supermarkt, um zu sehen, was, von wem und warum für den täglichen Gebrauch eingekauft wird. „Wenn wir etwas über Gegenstände erfahren wollen, müssen wir dahin gehen, wo die Gegenstände sind“, lautet das Motto. Eigenartigerweise ist Der Trost der Dinge das erste von nun schon 26 Büchern Millers, das ins Deutsche übersetzt wurde. Über 17 Monate hinweg hat der Anthropologe mehr als 100 Haushalte einer zufällig gewählten Straße im Süden Londons besucht, um herauszufinden, wie Gegenstände Menschen dabei helfen, Verluste zu verarbeiten. Herausgekommen sind 15 (im englischen Original 30) Porträts verschiedener Personen, Psychogramme anhand von Interieurs. Möchte man in so viele fremde Wohnungen schauen? Nicht immer.

Doch Miller zeichnet eine fast absolute Empathie mit den Menschen aus und mit den Gegenständen, die er beforscht. Bei ihm gilt kein Geschmacksurteil, sondern die strenge Regel, die Welt aus dem Blickwinkel der anderen verstehen zu wollen, er behandelt jeden der besuchten Haushalte in bester ethnologischer Manier wie einen fremden Volksstamm. So erzählt er die Geschichten von Charlotte, die ihre Beziehungen als Tattoos mit sich herumträgt, von Jenny, die ihr Haus als einen Schrein des Vergangenen arrangiert, von Harry, dessen Leben und Wohnung die Farbe eines Hundes angenommen haben. Nur bei Stan, dem Gespenst in einer von Pornografie diktierten Welt, geht Miller die Empathie dann doch gründlich verloren.

All die Geschichten wären nicht mehr als interessante Reportagen, stünden hinter ihnen nicht eine Haltung und eine fixe Idee. Denn Miller unterlegt seine Forschungen mit einer „Theorie der Dinge“. Sie besagt einerseits, dass – entgegen aller moralischen Empörung über oberflächlichen Materialismus – Dinge Medien der Beziehung sind. In diesem Sinne ist Papua-Neuguinea nicht materialistischer als Großbritannien. Der Bezug der Menschen zu sich selbst wie zu anderen ist vermittelt über Gegenstände, und oft, wird Miller nicht müde zu betonen, haben genau die Personen, denen Dinge etwas bedeuten, auch ein intensives Interesse an Beziehungen überhaupt.

Ein zweiter Pfeiler in Millers Theorie ist die Überzeugung, dass Dinge eine eigenständige Handlungskraft besitzen. Dinge machen Menschen mindestens ebenso, wie Menschen Dinge machen. Miller spricht von einer „Bescheidenheit der Gegenstände“, denn meist fällt nicht auf, wie sehr sie den Rahmen bilden, in dem wir uns wie selbstverständlich bewegen – es ist eine „Ordnung der Dinge“, die uns auf eine fundamentale Weise prägt. Erst vor dem Hintergrund dieser Gedanken entwickeln die zunächst harmlos wirkenden Geschichten aus Der Trost der Dinge ihre bestechende Radikalität. Man teste an sich selbst einmal die Frage, warum man welche Gegenstände wie arrangiert, trägt, liebt, besitzt, warum man einige verabscheut und andere nicht missen kann, warum die eigene Wohnung leer ist oder voll. Im Umgang mit Dingen waltet eine im Grunde sehr strenge und nicht frei zu wählende Psycho-Logik, eine persönliche „Kosmologie“, die mit der laxen Aussage, die Wohnung sei ein „Spiegel“ der Persönlichkeit, bei weitem nicht ausgeschöpft ist.

So gibt Miller den Dingen ihre Magie zurück und liegt damit im Trend. Seit einiger Zeit mehrt sich der Widerstand gegen das vorherrschende soziologische Paradigma, die Welt für eine rein menschliche zu halten. Manche sprechen von einem „material turn“, und auch Miller will zwischen Mensch und Ding gar nicht mehr so genau unterscheiden. Was ihn daneben aber auszeichnet, ist sein Wille, sich von konventionellen Denkrastern zu befreien. Daher kommt bei seinen Studien immer etwas anderes heraus, als man erwarten würde, etwa dass es bei Besitz im Grunde um Beziehung geht, beim Einkaufen um Liebe und Opferritual, bei Mode um Angst und bei Feminismus um neue Unterwerfung. Diese Thesen gehören zur Strategie der schmutzigen Hände. Man mag die proletarische Attitüde aufgesetzt finden, aber der Preis ist nicht zu hoch für erstaunliche Bücher wie dieses.


Der Trost der Dinge Daniel Miller Edition Suhrkamp 2010, 226 S., 15

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