Zum Glück erleben manche Menschen in ihrem Leben ein Abenteuer. In der Nacht zum 15. April 1984 fliegt die DDR-Bürgerin Kerstin Beck per Lufthansa in Frankfurt ein. "Von der Besatzung ist einzig der Pilot informiert, welche heikle Fracht er in Reihe 27 an Bord hat: Mitten in der Nacht unternimmt er einen kleinen Spaziergang durch sein Flugzeug. Unsere Blicke kreuzen sich kurz, ein winziges Lächeln huscht über sein Gesicht." Kerstin Beck hat es geschafft, sie ist aus dem sowjetisch besetzten Afghanistan nach Pakistan geflohen, um von dort aus in die BRD einzureisen. Als Frau allein unter Moslems, in Begleitung von vier Mudschahedin, drei Kalaschnikows und einem Pferd übern Hindukusch. Was für eine Story.
Manchmal führen einfache Feststellungen zu phantastischen Plänen: "Die Chance, über die innerdeutsche Grenze zu flüchten, war gleich Null, die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan hingegen war durchlässig." Zwischen Pakistan und der DDR bestand kein Auslieferungsabkommen. Also begann Beck, von langer Hand geplant, ein Studium der Asienwissenschaften mit Spezialisierung auf Afghanistan an der Humboldt Universität Berlin und bewarb sich um ein sechsmonatiges Sprachpraktikum nach Kabul. Von hier aus wollte sie fliehen. Man muss sich wundern, dass so etwas funktionieren kann, doch neben Allah hatten, wie Beck erst später erfuhr, auch die Geheimdienste ein bisschen mitgemischt, um ihr zum West-Glück zu verhelfen. Sie lernt in Kabul einen Geschäftsmann kennen, der über Verbindungen zu den Mudschahedin verfügt, sie spricht Dari, das afghanische Persisch, sie ist 24 Jahre jung und gegen den Kommunismus. Das reicht.
Der Hauptteil von Verschleierte Flucht ist weniger politischer als ethnografischer Natur. Beck beschreibt in Form eines Reisetagebuchs hauptsächlich die siebentägige Passage durch das Gebirge, und sie beschreibt sie in ihren Kleinigkeiten: was sie trägt, wie der Schleier sie schützt und stört, wie sie angegafft wird, wie man nach ihr greift, wie auffällig ihre Boots und wie unbequem die unauffälligeren Latschen sind, wie es in den Waschhäuschen (sofern vorhanden) aussieht und riecht, wann und wie ihre Begleiter beten, wie man versucht, sie zur Muslima zu machen, wie schwierig es ist, auf ein Pferd zu steigen, wie feucht die Strumpfhosen sind, wie süß die getrockneten Beeren und wie furchtbar die Flohbisse.
Kerstin Beck ist zwar mit Chuzpe gesegnet, nicht aber mit üppigem literarischem Talent, will heißen: ihr Buch ist verdammt schlecht geschrieben. Es klingt, als sei der Hauptteil der Aufzeichnungen älteren Datums, verfasst im kecken Jargon einer 24-Jährigen mit nicht gerade elaboriertem Wortschatz. Ständig fragt jemand "listig" etwas, "fordert mich auf" oder man muss mal "hinter die Büsche". Eine wenig literarische Liebe fürs unwesentliche Detail kann ziemlich auf die Nerven gehen. Jenen Lesern jedenfalls, die Urlaubs-Diashows für eine strafrechtlich zu verfolgende Quälerei unter Freunden halten, sei von Becks Buch abgeraten, denn es ist ganz in diesem Stil gehalten: Hier sitze ich mit Ali, Atta, Madschied und Rulam, wir essen gerade Fladenbrot und trinken Tee, was ganz ausgezeichnet schmeckt.
Dennoch hält Verschleierte Flucht eine Spannung. Sie entsteht einmal durch die kleine Liebesgeschichte zwischen Beck, die sich auf der Reise Sainab nennt, und Rulam, dem Jüngsten ihrer Begleiter. Und sie entsteht mit der kippeligen Psychodynamik in der kleinen Gruppe, die unter Gefahr und schwierigen Witterungsbedingungen reist. Beck beschreibt ihre vier Begleiter mit allen Sympathien und Abneigungen, allen Zweifeln und Verdächtigungen, und sie beschreibt sich mittendrin in diesem Geschlechterspiel aus Begehren, Schutzinstinkt, Neugier und Ausgeliefertsein. Eindrücklich bleibt der permanent Rauschgift kauende Fiesling Ali und der hübsche Rulam, der sich unsterblich in Beck verliebt hat und sie ritterlich die Berge hochzieht. "Seine Hand ist ganz warm und ein Strom von Gefühlen fließt zu mir. Wir schauen uns in die Augen ..." - Beck ist irgendwie auch sympathisch in ihrer direkten Art, die Dinge zu beschreiben.
Die "heikle Fracht" wird von den vier Mudschahedin wie ein Kleinod sicher ans Ziel gebracht, und sie ist auch politischer Hinsicht ein kleiner Schatz, ein Mittel. In den Bericht selbst sind Fahndungsprotokolle eingefügt, Telegramme, die nach Bekanntwerden der Flucht zwischen der DDR-Botschaft in Kabul und der Staatssicherheit hin und her gingen. Letztlich aber, schreibt Beck in einem Epilog, seien alle Geheimdienste vom KGB über Stasi, CIA und BND über ihren Weg informiert gewesen, und jeder nutzte ihre Flucht auf seine Weise. Das Räderwerk, das ihre so naiv begonnene Reise vorantrieb, war gut geschmiert. Becks Begleiter überdies kamen bei einem Feuergefecht auf dem Rückweg ums Leben, andere Menschen in Kabul wurden unter Vorwand der Mithilfe zur Flucht eingesperrt.
Warum erscheint jetzt, 20 Jahre nach Becks Flucht, ein solches Buch? Sicher, Afghanistan ist unter veränderten Vorzeichen wieder ein Thema, der Islam, die Freiheitskämpfer und der Schleier. Der Ton aber, in dem das Motiv DDR-Flucht abgehandelt ist, wirkt hölzern, wie tausendmal gehört. Das macht ihn nicht weniger wahr, und doch klingt er wie ein Kalter-Kriegs-Anachronismus, der uns scheinbar immer wieder einholt.
Kerstin Beck: Verschleierte Flucht. Aus der DDR über Afghanistan in die Freiheit. Ullstein, Berlin 2005, 272 S., 19,90 EUR
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