Die israelische Künstlerin Oreet Ashery spielt mit den Insignien orthodoxen Judentums und schlüpft bisweilen in eine andere, männliche Identität. Ihre Arbeiten waren kürzlich in einer kleinen Ausstellung "Alter Ego" in Berlin zu sehen.
Beginnen wir mit ein paar maßlosen Thesen: Es war nicht der Exodus aus Ägypten, der aus dem Volk Israel ein Auserwähltes machte, es war die Schrift. Es ist nicht die Biologie, die eine symbolische Ordnung der Geschlechter formt, es ist die Schrift. Es sind nicht Länder und Territorien, die eine Gesellschaft, einen Kollektivkörper prägen, es ist die Schrift.
Christina von Brauns Versuch über den Schwindel ist ein fulminantes Buch, und es geht in ihm, wie der Untertitel knapp und lakonisch verrät, um "Religion, Schrift, Bild, Geschlecht". Größer könnte es kaum kommen. Den Leitfaden des ganzen Unternehmens bildet das Verhältnis von Judentum und Christentum, das von Braun als eine Art Dialektik des nicht-aufhebbaren Unterschieds versteht. Dabei führt sie das Wesen der beiden Religionen nicht auf Kultur und Tradition zurück, sondern, wesentlich grundsätzlicher, auf ihre verschiedenen Schriftsysteme. Während das griechische Alphabet, Grundlage der späteren christlichen Tradition, sich als volle Buchstabenschrift entwickelt, ist das semitische Alphabet eine Konsonantenschrift, die nur zu lesen versteht, wer sie auch sprechen kann. Das semitische Schriftsystem bleibt damit an den leiblichen Vorgang des Sprechens gebunden, die Thora muss laut gelesen werden, und der Exodus des israelischen Volkes, so vermutet von Braun, könnte eine bloße Metapher sein für die Exklusivität einer Sprachgemeinschaft, deren Schrift sich nicht so universal verbreiten lässt wie die griechische.
Von Braun liest den Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit als eine Art (symbolischer) Kastration. Schrift ist abstrakt, "das Alphabet", heißt es an einer Stelle, "entriss dem Körper die Zunge". Im Judentum jedoch bleibe die ursprüngliche "Wunde zwischen Zeichen und Körper" in der unvollständigen Schrift und im Ritual der Beschneidung präsent. Die volle Alphabetschrift hingegen tendiere zur Produktion eines abstrakt geistigen Prinzips, das den Hinweis auf den durchs Zeichen verletzten Körper auslösche.
Präsenz der Wunde oder ihre Verdrängung - mit diesem Raster zeichnet von Braun beeindruckend die Entgegensetzung zweier Kulturen: eines Judentums, das in der Differenz der Geschlechter den Unterschied von Gott und Mensch betont, eines Christentums, das die Menschwerdung Gottes und die Vereinigung der Geschlechter feiert; eines Judentums, das mit dem Bilderverbot eine vergeistigte Schriftkultur entfaltet, eines Christentums, das an das "Fleisch gewordene Wort" glaubt, Gott ins Bild bannt und im Glauben an Kreuzigung und Auferstehung die erste Wunde durch eine zweite zu schließen versucht.
Aus der Schriftform eine ganze Kulturtradition bis in die Gegenwart abzuleiten, ist ein heikles Unterfangen. Letztlich aber zeigt sich von Braun darin als konsequente Vertreterin eines medientheoretischen Ansatzes, der eben in der Form die Ursache, im unsichtbaren Werkzeug den bewegten Beweger kulturhistorischer Entwicklung sieht. "Gott" sei eigentlich die Schrift, meint von Braun bezogen auf die griechische Kultur. Für die Medientheorie ist die Schrift Gott.
Verdrängtes, das wissen wir, lässt sich nicht zähmen, und so kehrt in der griechisch-christlichen Tradition die Schrift als Bild und Körper wieder. Eine der wichtigen Thesen des Buches ist, dass die Gemeinschaften mit voller Alphabetschrift - weil sie den Unterschied zwischen Zeichen und Leib vergessen machen - zu einer "Naturalisierung des Sozialkörpers" und zu Gewaltsamkeit tendieren. Weite Teile der Studie sind der Frage gewidmet, welche Körper-Bilder sich Gemeinschaften in verschiedenen historischen Epochen geben und wie sich das kollektive Imaginäre in den wirklichen Körpern realisiert. Magersucht, Hysterie und weibliche Opferbereitschaft beispielsweise deutet von Braun als Reaktionsbildungen auf einen ambivalent als "Frau" imaginierten Sozialkörper. Dabei stellt sie heraus, dass das Weibliche gleichzeitig den allgemeinen Kollektivkörper repräsentieren und - als individuelles - zum Inbegriff der Anomalie werden kann.
So wie die Frau als Abweichung gilt, gilt der Jude als Fremdkörper. Im antisemitischen Kontext werden Juden auffällig oft in sexualisierten Bildern dargestellt als weibisch, homosexuell oder geschlechtlich indifferent, als das Fremde zum eigentlichen. Die Selbstvergessenheit griechischer Schriftkultur, die beschriebene Tendenz zur "Naturalisierung" des Symbolischen gipfelt im rassischen Begriff vom reinen Volkskörper und dem Gegenbild des blutschänderischen Juden. Besonders beeindruckend ist von Brauns Analyse in den Passagen, in denen sie Ritualmordbeschuldigungen an Juden als Projektion der Abendmahlssymbolik (hier trinkt der Christ das Blut), die "Endlösung" als christliches Erlösungsmotiv lesen kann. Im Antisemitismus antwortet das Christentum letztlich auf sich selbst.
Keine andere Religion, meint von Braun, habe so sehr den Drang zu Säkularisierung wie das Christentum, das sich von der unentrinnbaren Gewissensschuld eines sich aufopfernden Gottessohnes befreien müsse. Doch Säkularisierung setze sich in der griechisch-christlichen Tradition als Verweltlichung der Religion und ihrer Symbolik durch. Das klingt harmlos, besagt jedoch in letzter Konsequenz, dass die religiöse Erbschaft nicht nur auf etwas Vergangenes hinweist, sondern auch auf eine mögliche Zukunft. Die verweltlichte Religion ist eine, deren Motive sich jederzeit wieder aktualisieren lassen, um Inhalte "magisch aufzuladen". Wir müssen uns daher nicht wundern, wenn Christina von Braun Zusammenhänge zwischen christlicher Bilderverehrung und modernen Bildtechnologien herstellt, wenn sie den Simulationstechniken eine strukturelle Verwandtschaft mit der unio mystica, der Vereinigung mit Gott attestiert. Und wir müssen uns wohl auch nicht wundern, wenn im Umgang mit dem Cyberspace neue mytho-religiöse Denkformen wieder auftauchen. Das säkulare Zeitalter, in dem wir uns wähnen, ist keine wirkliche A-Religion, und dieses Zeitalter könnte, mit Foucault zu sprechen, so rasch verschwinden "wie ein Gesicht im Sand".
Nun zum Schwindel. In Schwindel - in seiner doppelten Bedeutung von Verlust des Gleichgewichtssinnes und Betrug - versetzt uns von Braun zunächst selbst. Denn auf welchem Boden stehen ihre Thesen? "Auch ist es kein Zufall, dass sich das englische Wort für Seite, page, von pagus, Acker, herleitet", schreibt sie zum Beispiel, oder: "Die Entstehung eines neuen Schuldkonzeptes vollzieht sich zeitgleich mit der Durchsetzung der Alphabetschrift", oder :"Deshalb ist die strukturelle Ähnlichkeit der Rezeptionsmuster des Kinos und der ... des Unbewussten auch vielleicht ... als Folge des griechischen Alphabets wie christlicher Ikonophilie zu betrachten."
Von Braun denkt in Zusammenhängen, Widerspiegelungen, Substitutionen ("Setzt man nun an die Stelle von Moses die Alphabetschrift"), Ähnlichkeiten, Hervorbringungen - sie bilden das Raster einer scheinbaren Logik, die die Welt zusammenhält. Die Schrift erscheint als Ursache von Wandel, Symbolisches verweist bedeutsam auf reale Zusammenhänge. Das, mit Verlaub, ist Schwindel.
Dass von Braun ihr Buch Versuch über den Schwindel nennt, liegt unter anderem daran, dass für sie der Schwindel, die Hysterie, die Lust an der Vermischung von Subjekt und Objekt zum Signums für die griechisch-christliche Tradition wird, aber auch, dass sie selbst Gefallen an der Untersuchung der Schwebe-Zustände findet. Nur im Moment des Schwindels vielleicht, kann sie die Zusammenhänge von Geschlecht, Bild, Schrift und Religion deutlich machen, die wir, mit festem Boden unter den Füßen, nicht erkennen würden. Dennoch geht es ihr nicht wirklich um den Schwindel, und so wirkt der Titel willkürlich und zeigt, wie sehr die Kulturwissenschaften in ihre eigenen Metaphern verliebt sind. Das ganze Buch mag konstruiert erscheinen, eine gewaltsame Klammer um verschiedene Themen und Analysen gepresst, um vieles auch, was man aus von Braunscher Feder schon kennt. Doch das schadet nicht.
Die beeindruckende Gegenüberstellung von Judentum und Christentum wirkt allerdings merkwürdig steril, weil sie kein Wort über den Islam verliert. Man könnte fürchten, dass eine Einbeziehung des arabischen Schriftsystems, das - wie das semitische - keine Vokale kennt, die ganze schöne Ordnung durcheinander brächte. Eigenartig dünn bleibt letztlich auch die Bestimmung von Geschlecht. Wenn auch gewagte Interpretationen, wie beispielsweise zum Geschlecht des Zeichens Alpha, zu finden sind, bleiben etliche der Aussagen im bekannten Schema der Frau als der Anderen, dem Negativ zum Positiv, stecken und fallen damit an Originalität hinter andere Thesen zurück.
Letztlich aber ist von Brauns Opus eine Fundgrube, eine Fülle kulturwissenschaftlicher Detailanalysen zu den brisanten, weil leidenschaftlich besetzten Themen. Wer etwas über Opferrituale, Reinheitsgebote, die Transsubstantiationslehre, über die Geschichte der Nation, über den Unterschied von Film und Photographie, über Christusdarstellungen oder das Design der Zeichen erfahren will, ist hier gut aufgehoben. Dass nicht alles aufgeht, steht auf einem anderen Blatt und auch, dass wir den Verdacht nicht los werden, dass von Brauns Sympathie zwar dem Judentum gilt, ihre Methodik sich aber beim Christentum bedient: das Symbolische fürs Reale zu nehmen. Diesen Schwindel müssen wir in Kauf nehmen, wenn wir geniale Thesen hören wollen.
Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Pendo-Verlag, Zürich, München 2001, 672 S., 39,90 EUR
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