Evolution der Gewalt

Krieg Die Geschichte der Kriege hört nicht auf, sie ändern nur ihre Form und ihre Gestalt: Herfried Münklers neuer Wälzer
Ausgabe 42/2015

Der Krieg sei ein „wahres Chamäleon“ zitiert Herfried Münkler seinen Gewährsmann Clausewitz. Der Kampf, soll das heißen, nimmt je nach historischem Setting verschiedene Gestalt an. Aber ändert er auch sein Wesen? Wir werden sehen. Naiv jedenfalls wäre es, die lange Phase des Friedens in Zentraleuropa als Vorschein einer gewaltfreien Zukunft zu verstehen. Die Geschichte des Krieges hört nicht auf – diese Idee ist die Achse, um die sich Münklers Überlegungen seit Langem drehen. In den groß angelegten Kriegssplittern führt er nun verschiedene Elemente zusammen, seine Studien zum Ersten Weltkrieg, die Theorien der Neuen Kriege sowie Thesen über gegenwärtige Raumordnungen und die Wiederkehr von Imperien.

Splitter der Urkatastrophe

Der Erste Weltkrieg gilt ihm dabei als eine Art Nucleus, der spätere Gewaltentwicklung und Gewaltformen präfiguriere. „Splitter“ der viel beschworenen „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts findet Münkler demnach überall, in den gegenwärtigen Konfliktherden auf dem Balkan, im Kaukasus, in der Ukraine, im nahen und fernen Osten, aber auch in den heute unter humanitärer Flagge segelnden und zu „Polizeiaktionen“ transformierten militärischen Interventionen der Großmächte.

Münklers Buch beginnt mit einer mehr als hundertseitigen Analyse des Ersten Weltkrieges. Was trocken anmutet, ist sehr spannend geschrieben. Münkler betont, dass nicht sein Ausbruch 1914 – den Ersten Weltkrieg zur „Urkatastrophe“ für Europa werden ließ, sondern sein langer und verlustreicher Verlauf. Detailliert analysiert er die Machtkonstellationen und Hegemonialinteressen der Großmächte, er rekonstruiert die politisch und romantisch inspirierten Motive des deutschen Bürgertums, einen für ihre Schicht eher untypischen Heroismus auszubilden. Das Ende und der Ausgang des Krieges seien Ursache für den Niedergang der bürgerlichen Welt und einem beschleunigten Gang in die Moderne.

Im Ersten Weltkrieg sieht Münkler auch die Gelenkstelle zum Übergang in postheroische Gesellschaften. Längere Ausführungen widmet er dem Begriff des Heros. Denn der Held ist ohne Bereitschaft zur Selbstaufgabe, ohne das zum Sacrificium erhöhte Opfer nicht zu denken. Schwierig allerdings ist die Balance zwischen dem „Sakrifiziellen“ und dem „Viktimen“, wie Münkler es nennt. Nach den Verlusten des Ersten Weltkriegs und mit zunehmender Säkularisierung blieb nicht mehr viel Opferbereitschaft übrig, womit auch der militärische Heroismus zunächst seine Geschäftsgrundlage verlor. Untergründig läuft in Münklers These der Ent-Heroisierung eine leichte Nostalgie mit, zumindest aber eine Besorgnis, denn das alte Ideal des Helden habe für eine ethische Bindung gesorgt, für die „Symmetrie“ der Kräfte im Kampf. Schwächere abzuschlachten, den Gegner auszuspielen, bringt keine Punkte auf dem Feld der Ehre. Das Heldenideal auf der einen, Kriegsrecht auf der anderen Seite seien Versuche, die in militärischen Auseinandersetzungen waltenden Asymmetrien auszutarieren, sozusagen Regeln der Fairness einzuführen und damit Schaden zu begrenzen. Merkmal der neuen, „hybriden Kriege“ sei aber, dass in ihnen die herkömmlichen gewaltbegrenzenden Mechanismen nicht mehr greifen.

Der Traum vom ewigen Frieden ist älter als das 20. Jahrhundert. Schon Ende des 19. Jahrhunderts kursierte die Auffassung, einen Krieg in Europa werde es nicht mehr geben, schlicht weil sich Kriege in hoch entwickelten Ländern nicht rechnen. Der mögliche Schaden könnte durch Territorien- oder auch Ressourcengewinne niemals aufgewogen werden.

Das gilt im 21. Jahrhundert mehr denn je. Die großen Staatenkriege seien im Grunde unführbar geworden, meint Münkler, ihre Ära sei vorbei. Stattdessen verschöben sich Kriege an die Ränder der Wohlstandszonen, sie verwandelten sich aufseiten der großen Mächte zu interventionistischen Polizeiaktionen. Die These von der „Verpolizeilichung“ ist zentral für Münkler. Asymmetrisch sind die Kombattanten, asymmetrisch die Ziele, asymmetrisch sind auch die Waffen und die Methoden des Kampfes. Akteure der neuen, hybriden Kriege sind nicht unbedingt Staaten, sondern private Militaristen, Warlords, Terrornetzwerke, aber auch NGOs und globale Konzerne. Während die Großen – salopp gesagt – Polizei spielen und über unschlagbare Waffen verfügen, setzen die Kleineren auf Terror und Partisanenstrategien.

Münkler macht hier eine eigene Taxonomie der verschiedenen Vulnerabilitäten auf; in Netzwerken organisierte Gegner seien – weil territorial nicht gebunden – kaum zu bekämpfen; sie können mit geringen Mitteln Zermürbungskriege führen, wozu auch die gezielte Mediennutzung gehört. Die brutalen Hinrichtungsvideos des IS zählt Münkler zum „Krieg der Bilder“, und die Drohne sieht er als klare Antwort der Großmächte auf terroristische Bedrohung. Sie sei die Waffe der postheroischen Gesellschaft und daher auch nicht mit Kriterien, die aus der Zeit des Heroismus stammen – Mann gegen Mann –, zu kritisieren. Immer weniger, prophezeit Münkler, werde es in künftigen Kriegen um die Beherrschung von Territorien gehen, sondern viel eher um die Kontrolle des „Fließenden“, also um die Regulierung von Waren-, Menschen- Kapital-, Kommunikationsströmen.

Die neue Macht sei darum weniger eine militärische, sondern eine, die von den Geheim- und Überwachungsdiensten ausgehe. Für die Überlegungen zum Fluiden stehen Deleuze/Guattari Pate und die Regeln der guten alten Seeschlacht. Denn die Regierungsweisen der alten Seeimperien lägen als „Kontrolle der Ströme“ strategisch näher an den neuen, globalisierten Erfordernissen als die der klassischen Landimperien.

Überzeichnen

Kriegssplitter ist ein großer Rundumschlag, der – wiewohl in weiten Teilen interessante Lektüre – etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Offenbar wollte Münkler in diese Genealogie der Gewaltentwicklung alles hineinpacken, was ihn in den letzten Jahren umgetrieben hat, und so wirkt das Buch stellenweise redundant und patchworkartig. Im einführenden Teil zum Ersten Weltkrieg ist des Autors Thesenfreude wohltuend durch historisches Material gebremst, in den Gegenwartsanalysen und Zukunftsszenarien werden die Hypothesen dann notwendigerweise luftiger und in kulturwissenschaftlicher Manier großspurig: „Verschwörungstheorien sind als Funktionsäquivalent der Informationsevaluation an die Stelle der professionellen Journalisten getreten.“ Aber hallo!

Man müsse überzeichnen, sagt Münkler, um Veränderungen „frühzeitig beziehungsweise politisch rechtzeitig“ wahrnehmen zu können. Das mag schon stimmen. Bei aller Nonchalance hat Münkler aber auch eine Lust daran, Bedrohungsszenarien auszumalen; sie reichen von den heroischen Attentätern, die den Schrecken in postheroische Gesellschaften tragen, über die schleichende Aushöhlung von Kriegsvermeidungsregeln in hybriden Kriegen bis zur Mahnung, dass das naive Europa sich im Regime der Kommunikationsströme nicht vom Global Player USA abhängen lassen dürfe. Die Methode hypersensibilisierter Zeitdiagnostik triggert einen quasi militärisch inspirierten Alarmismus, der vorsorglich den Finger am Abzug hält.

Wie steht es also um den Krieg, das alte Chamäleon? Ändert er die Farbe, aber nicht sein Wesen? Die Geschichte der Kriege hört nicht auf, sagt Münkler. Das ist eine schlechte Nachricht. Den Spezialisten fürs Agonale mag sie aber die tröstende Zuversicht geben, dass man auch in postheroischen Zeiten noch mit den Kategorien von Angriff und Verteidigung, Bedrohung und Abwehr denken darf. Chamäleon bleibt Chamäleon.

Info

Kriegssplitter: Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert Herfried Münkler Rowohlt 2015, 400 S., 24,95 €

Über die Bilder der Beilage

invisible photographer asia wählte ihn unter die 30 einflussreichsten Fotografen Asiens: Erik Prasetya. Geboren 1958 in Padang, einer Hafenstadt in der indonesischen Provinz West- Sumatra, arbeitet Prasetya nach einem Technikstudium zuerst in der Ölbranche, dann als Reporter. Er stellt fest, das Schreiben ist nicht seine Stärke – dafür die Fotografie! Seit über 20 Jahren dokumentiert er nun schon das Stadtleben der Hauptstadt Jakarta. Die meisten Fotografen zelebrierten eine Mittelklasse-Ästhetik zwischen Voyeurismus, Romantik, sogar Exotik, schreibt Prasetya einmal. Eine Ästhetik, die man überwinden müsse, um die „Wahrheit“ zu finden. Das Bildessay JAKARTA: estetika banal versammelt Aufnahmen in schwarz-weiß von 1990 bis 2010. Jakarta sei seit den Reformen eine andere Stadt, sagt Prasetya in einem Interview, der Verkehr sei natürlich immer noch schrecklich.

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