Man kennt solche Träume: Befindet sich in der eigenen Wohnung, doch die sieht fremd aus, sie dehnt sich in die Breite, in die Höhe, birgt Zimmer, Kammern, Speicher oder Keller, von deren Existenz man bis dahin nichts wusste, und bisweilen spazieren fremde Menschen einfach so hindurch. Die Dimensionen sind verschoben, die Durchlässigkeit ist höher, Mauern, Fenster und Türen schließen nicht dicht in den Wohnungen unserer Träume, die wohl auch die Vorlage abgaben für Freuds Diktum, das Ich sei nicht Herr im eigenen Hause.
Sibirien wohnt in einer solchen Wohnung. Die junge Frau, die eigentlich Brigitte heißt oder auch einfach "ich" - aber nicht immer - gibt sich mit jeder Laune und mit jeder neuen Liebesaffäre einen anderen Namen, Maria hieß sie, Jana, Fiedje, Hadschi Halef, Ferrari oder Trili. Gerade heißt sie Sibirien, doch nicht mehr lange, ahnt sie, wird der Name dauern. So liegt sie in ihrer Kreuzberger Parterre-Wohnung auf dem Bett, trinkt Bier, kuschelt mit Meier zwo, dem Kater, vertreibt die Geliebte Andschela vom Fenster und aus ihrem Leben, während langsam und zunehmend der Taumel einer endlosen Nacht beginnt: der Raum wird fremd, enthält Gegenstände, die Sibirien dort nicht hingelegt hat, von unten, aus dem Keller, kommen Stimmen, die Tür lässt sich nicht mehr öffnen, der Linoleumboden mit Schachbrettmuster gibt nach, wird weich und bricht später vollends weg. Sibirien schwebt jetzt auf ihrer Matratze frei in der Luft, drunter geht es in die Tiefe, hier liegt, unterm Parterre, ein weiteres Haus mit mehreren Etagen, bodenlos. Es treten auf: Schachfiguren, ihres Zeichens Dame und Bauer, Kobolde, ein junger Mann, der Fleischer oder Trommler ist und sie verführen möchte, eine Zugbekanntschaft namens Gertrud Lindner, die eine nicht unwichtige Rolle spielen wird, es treten auf Merkur als "zerrupfter Superputer" und Neptun, eine eigenartige Muse und die Eltern, Vater und Mutter.
Wie das Zimmer, so wird auch der Text zunehmend haltlos, gerät in einen Strudel aus Szenen und Figuren, Sibirien wird zu einer Alice im Wunderland. Wovon der Roman eigentlich handelt, ist nicht leicht zu sagen, von Identität handelt er und davon, dass eine Person sich aufspalten kann, immer weiter. Er handelt von der Ununterscheidbarkeit zwischen Traum und Wirklichkeit, von Phantasien, die sich verkörpern wollen und von alten Geschichten, die wie unbegrabene Leichen umhergehen. Und er handelt von sexuellem Missbrauch, ganz sicher. Ein schänderischer Vater macht sich hier lang und breit an den "Mangolippen" seines "Muschelmädchens" zu schaffen, das sich seinerseits wiederum wie ein Wurm in den Schoß der Mutter zurückgefressen hat. Zuvor hatte der Erzeuger die Lippen der Mutter abgeknabbert, um mit dem "Mutterkuss" sein Gemächt zu bekränzen, und gebären muss er, doch was herauskommt, ist nur der tote Schachbrettbauer. Verständlich ist hier kaum etwas, Surrealismus ist nichts dagegen. Und doch sind die wild durcheinander gewürfelten Szenen und Bilder aufeinander bezogen, wunderbar sprachgewaltig und witzig sind etliche Passagen, wie die Gebärgesänge des Vaters oder der Loch-Monolog der Mutter, in dem sie lang beschreibt, wie das Männliche, das Meer, permanent und ohne Unterlass versuche, in alles, was Öffnung ist, einzudringen, weshalb sie sich jetzt überall zugestopft habe, denn sie sei ein leckes Schiff, das sinkt.
Annette Berr war 25 Jahre alt, als sie diesen Roman schrieb, der 1988 zuerst erschien und nun neu aufgelegt wird. Ähnlich wie in dem später erschienenen schönen Erzählungsband Orgasmusmaschine - dessen Geschichten konsistenter sind - erschreibt Berr einen weiblichen, vornehmlich lesbischen Eros bis zu seiner Auflösung, Begehrenslagen verwischen und gehen im Phantastischen auf. Auch wenn der Titel anderes suggeriert, Orpheus und Sibirien ist keine Liebesgeschichte. Ein/e "Orpheus" tritt nicht auf, stattdessen aber gelangt Sibirien - wie Orpheus - auf "die andere Seite", "hinter das Tor der Zeit". Hier leben die "feinstofflichen" Existenzen, die dazu verdammt sind, den Phantasien und Träumen der Menschen ein Gesicht zu geben. Es ist die Begegnung mit der eigenen Unterwelt, Sibirien soll sich retten, indem sie zu dem Teil ihrer selbst, der in der Wohnung auf der Matratze liegt und träumt, zurückkehrt. Die Zeit läuft, denn ihr noch lebendiger Teil soll von Gertrud Lindner geholt werden, der untoten Prinzessin, die sich freikaufen will, indem sie Sibirien opfert. Mythologeme fallen zusammen, Orpheus und Eurydike, Hades und Proserpina. Der Rat des Orakels lautet: "Was zwei ist, ist zwei. Was eins ist, bleibt noch immer eins, denn der Faden reißt nie. Eins soll nach eins schauen, soll sich selbst anrufen und dann werden sie einander wieder finden." So steigt Sibirien durch die Geschosse des Hauses unter ihrer Parterre-Wohnung auf, durchquert eines nach dem anderen und zum überraschenden Schluss, der hier nicht verraten wird, ist es fast, als habe der Spuk "Sibiren" ein Ende.
Manche Texte, die man zur Rezension erhält, kommen nicht als Buch, sondern als Manuskript. So habe ich Orpheus und Sibirien als einen vier Zentimeter hohen Papierstoß - ohne Zeitenzahlen - wie ein rohes Ei mit mir herumgetragen. Wenn der Stapel hinfliegt, dachte ich, ists vorbei, was von sich aus schon kopfüber und kopfunter ist, wäre nicht wieder zusammenzubringen gewesen. Will heißen: der Text ist phantastisch, aber eigentlich unlesbar. Unordnung überall. "Zimmer in Träumen", schreibt Freud, "sind zumeist Frauenzimmer, die Schilderung ihrer verschiedenen Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gerade nicht irre." Sibirien ist ein wildes Frauenzimmer.
Annette Berr: Orpheus und Sibirien, Konkursbuch-Verlag, Tübingen 2003, 280 S., 12,90 EUR
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