Da ist zum Beispiel die Sache mit der Languste. Sie sind jung, die beiden, unglaublich jung, wie man es sich kaum noch vorstellen kann, heute, da die Bilder des alten Paares die des frühen überdecken. Sie sind auf Reisen in Italien, streifen eine Nacht lang glücklich durch Venedig, der Tag bricht an, die Cafés öffnen, sie mieten ein Zimmer, um zu schlafen. "Sartre", schreibt Simone de Beauvoir, "sagte mir später, dass ihm die ganze Nacht hindurch eine Languste gefolgt sei."
Langusten waren ein Problem für Sartre. So wie Klebriges, Teigiges und Löcher. Oder ein Kieselstein, der den Romanhelden Roquentin zu der denkwürdigen Überlegung veranlasst: "Die Gegenstände, das dürfte einen nicht berühren ... Aber mich, mich berühren sie, das ist unerträglich. Ich habe Angst, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als wären sie lebendige Tiere." Derselbe Roquentin erlebt - eine viel zitierte Stelle - beim Anblick der mächtigen Wurzel eines Kastanienbaums eine Initiation. Er begreift plötzlich, was "Existenz" heißt, und sie enthüllt sich ihm mit dem Gefühl, das Sartres erstem Roman seinen Titel gab: Ekel. Existenz, das ist reines Da-Sein, es ist "monströse wabbelige Masse", "erschreckende obszöne Nacktheit" ohne Sinn und Zweck. Zufall, reine Kontingenz. Sartre behauptete, er selbst habe solchen Ekel nie empfunden, Roquentin sei schließlich eine Romanfigur, die er brauchte, um ein philosophisches Konzept zu entwickeln. Von wegen.
Obwohl es überhaupt nicht so aussieht, als würde er sich vor irgend etwas ekeln - dieser ungepflegte, kettenrauchende, hässliche kleine Mann, der sich so gerne die Hände schmutzig machte -, obwohl er nichts so sehr wollte, als mit der Philosophie "zum Konkreten" zu gelangen, werde ich die These aufstellen, dass ein geheimes Movens des gesamten Sartreschen Begriffsuniversums lautet: Fass mich nicht an!
Was ist ein unglückliches Bewusstsein? Für Hegel ist es ein "in sich selbst widersprechendes" Bewusstsein, es ist Herr und Knecht in einem und auf jeden Fall ein vorübergehendes Zwischenstadium auf dem Weg des Geistes zu sich selbst. Sartre erhebt genau diese Struktur, die Ambivalenz also, zum unhintergehbaren Merkmal menschlichen Daseins: "die menschliche Realität leidet in ihrem Sein, weil sie zum Sein auftaucht als dauernd heimgesucht von einer Totalität, die sie ist, ohne sie sein zu können ... Sie ist also von Natur aus unglückliches Bewusstsein ohne mögliche Überschreitung des Unglückszustands." So lautet eine der mehrfach variierten Definitionen aus Sartres erstem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts von 1943. Ohne mögliche Überschreitung, no way out. Warum schreibt einer so etwas? Weil, erstens, Hegels Totalitätsvorstellung im 20. Jahrhundert unmöglich geworden ist. Und zweitens wegen der Langusten.
Das Zitat enthält im Kern den begrifflichen Setzbaukasten, den der frühe Sartre braucht, um zu erklären, wie es sich mit dem Menschen und der Welt verhält: Es gibt die Dinge, Kieselsteine und Baumwurzeln zum Beispiel, sie sind "An- sich", reines opakes Sein. Und es gibt den Menschen, "Für-sich", er ist bestimmt als eine Negation, eine Nicht-Identität, ein "Riss im Sein". Das Band zwischen dem Menschen und den Dingen ist einerseits Verschmelzung, "heimgesucht" ist der Mensch "von einer Totalität, die er ist", und andererseits Abgrenzung, er ist die Totalität, "ohne sie sein zu können." Fortan wird sich alles nur durch Verneinung verknüpfen, alles wird sich fein säuberlich in Oppositionen abspielen.
In Sartres Universum gibt es nichts dazwischen, Tiere kommen kaum vor, Pflanzen nicht, kein Gott und keine Engel - es gibt nur on und off, Opazität und Transparenz, Sein und Nichts. Sartre wird dieses Schema mit höchster Akribie ausbauen, aus der Kontingenz wird er volle Verantwortung, aus der Negation totale Freiheit zaubern. Er wird das Thema variieren. In der Kritik der dialektischen Vernunft (1960), seinem fulminanten Versuch (post-)marxistischer Theoriebildung, wird die Kategorie des Mangels an die Stelle der Negation treten, die historischen Bedingungen, das Praktisch-Inerte, an die Stelle der Kontingenz. Sartre wird differenzieren, was das Zeug hält, er wird seinen frühen Subjektivismus ausmerzen, indem er den Menschen - den gesamten Flaubert zum Beispiel - als Totalität eines gesellschaftlich-psychischen Ensembles analysiert. Aber er wird den binären Code nicht aufgeben. Er entwickelt eine Dialektik der Oszillation, er liebt es, in Zwickmühlen, Kippbildern, Paradoxa zu reden, "das Für sich ist, was es nicht ist und ist nicht, was es ist", "der Mensch wirkt auf die Materie, in dem Maße, in dem die Materie auf den Menschen wirkt". So geht es immer weiter, hin und her.
Im letzten Teil von Das Sein und das Nichts findet sich eine sehr eigenartige, längere Passage über das "Klebrige" und das "Loch". Man wundert sich, dass weder ein Lektor noch Simone de Beauvoir Sartre geraten haben, diese Stelle zu streichen: "der Honig, ... der von meinem Löffel fließt", heißt es dort, sei "wie das Breit- und Flachwerden der etwas reifen Brüste einer Frau, die sich auf den Rücken legt. ... Das Klebrige ist fügsam. Doch im gleichen Moment, in dem ich es zu besitzen glaube, besitzt es plötzlich mich ... seine Weichheit ist saugend ... Das Klebrige ist die Rache des An-sich. Eine süßliche, weibliche Rache." Sartre hat wirklich ein unnachahmliches Talent, peinlich zu werden.
Er fürchtet sich immer noch vor dem Zu-Nah-Rücken der Dinge und ist gleichzeitig auf eine manische Weise fasziniert davon. Daher spielt er sein Spiel: den Schrecken evozieren und ihn dann bannen. Er ist ein Philosoph, dessen ganzes Glück im Unglück besteht, im Scheitern. Denn Scheitern ist eine klare Sache, nichts weiches, unbestimmtes, molliges. Scheitern ist Distanznahme. Fass mich nicht an! Seine Fallgruben baut er sich selbst. Zum Beispiel, wenn er Intersubjektivität als Kampf denkt. Der Andere blickt mich an, und ich werde zum Ding. Oder ich blicke ihn an, und er wird zum Ding. Patt. Wie soll auf dieser Grundlage eine Ethik möglich sein? 600 Seiten lang müht sich Sartre später mit den Cahiers pour une Morale, dann bricht er ab (die Cahiers werden erst posthum erscheinen). Es ist Simone de Beauvoir, die mit dem schmalen Essay-Band Soll man de Sade verbrennen? eine existenzialistische Ethik schreibt. Natürlich geht das. Es geht nur bei Sartre nicht, denn er will keine Lösung. Er will das unglückliche Bewusstsein und sei es, um weiter schreiben zu können. Denn Scheitern garantiert Fortschreiten. Für Sartre ist es eine Flucht nach vorn, eine permanente Bewegung. Schreiben, nicht zurücksehen, nicht korrigieren, nicht überdenken, nicht verwerfen: neu schreiben, weiter schreiben, immer weiter.
Manchmal taucht im Zusammenhang mit Sartre das Wort "sadistisch" auf. Man kann durchaus auf die Idee kommen, dass dieses Werk etwas Quälendes hat, es peinigt die Leser, es ist quälend in seiner Monologhaftigkeit, in seiner aufgedunsenen Übermacht, in seinem steten Hin und Her der Argumente, aber auch in seiner Lust am Thetischen, an der harten Behauptung. Sartre will schockieren, er will diese radikalen Sätze äußern, die immer einen Tick zu einseitig sind, auch wenn sie sich dialektisch geben: Der Intellektuelle muss den Widerspruch leben, der Mensch ist auch vor dem Henker frei, der Homosexuelle ist unaufrichtig, die Hölle sind die anderen. Sartres Thesen wirken wie sophistische Fallen, von denen man nicht weg kommt, weil sie sofort zum Widerspruch reizen und durch Widerspruch an sich binden.
Mehr noch: Sartre befriedigt nicht. Er stopft voll und macht nicht satt - auch darin liegt ein Sadismus. Seitenlange hochkomplexe und schwierige Überlegungen münden regelmäßig in holzschnittartigen Schlussfolgerungen, exzellente Phänomenanalysen kippen um in unglaubliche Banalitäten. Man ist betrogen, wenn man Sartre gründlich und ernsthaft lesen will. Gleichzeitig laden seine Texte genau dazu ein, man will sie knacken, diese Sätze, die wie Orakel, wie Rätselspiele sind. Sartres Denken ist von grandioser Tiefe - es geht ihm immer um das wesentliche Problem, es geht immer ums Ganze - und es ist gleichzeitig untragbar nachlässig und ungenau. "Verdammt", sagt Sartre, "wie heißt bloß dieser Baum, den ich da gesehen habe und für Roquentins Ekel brauche?" - "Beschreiben Sie ihn mir", sagt Simone de Beauvoir und dann: "Das ist eine Kastanie." Klar: Er hat die Idee, sie weiß den Namen. Und vermutlich hätte er die Idee nicht gehabt, wenn er den Namen gekannt hätte.
Sartres Analyse über "den Blick" und die Scham, angeblickt zu werden, ist berühmt geworden. Ich erinnere mich an keine Stelle über Exhibitionismus, doch vermutlich gibt es sie in Sartres uvre. Der Exhibitionist macht aus der Scham die Lust, er verkehrt die Macht des Blickes zur Macht des Zeigens. Seht her, das bin ich. Ist das Sartre? Er soll ein bescheidener, lustiger und vor allem sehr großzügiger Mensch gewesen sein. Er wirkt sympathisch in den Fernseh-Interviews, immer bei der Sache, keinesfalls von sich selbst berauscht. Und doch ist sein Schreiben exhibitionistisch, nicht nur in den viel zu intimen Details, die Beauvoir und Sartre von sich veröffentlichten. Sartres Werke selbst haben eine Gewalt, eine Monstrosität, die ihresgleichen sucht. Sie wachsen an zu einer gigantischen, klebrigen Masse, weder bearbeitet noch unbearbeitet, ein ewiger, kaum überschaubarer Strom ausufernder Gedanken. Soll man sich wundern, dass ausgerechnet Sartre so unglaublich heftig angegriffen wurde, dass sein Werk Abscheu ausgelöst hat? Mimesis ans Gefürchtete, Umkehrung der Angst: Sartre will nicht überwältigt werden, also überwältigt er, er will sich nicht ekeln, also ekelt er. Sartre, der Radikale, wird zur Wurzel des Kastanienbaums.
Niemand ist weniger nackt als der Exhibitionist. Was wissen wir von Sartre? Alles angeblich, doch eigentlich recht wenig, er entweicht, er entzieht sich. Er hat sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode geschrieben, seine endlose Textproduktion erwies sich als Vernichtungswerk. Gleichzeitig scheint jetzt, 25 Jahre nach seinem Tod, der Affekt gegen ihn sich beruhigt zu haben, die Zeit den großen Sartre-Bashings ist vorbei. In Paris würdigt ihn die Bibliothèque Nationale derzeit mit einer schönen, umfangreichen Ausstellung; und was ihn selbst beunruhigt haben würde, macht den Zugang leichter: er gerinnt zum Klassiker.
Es bleiben seine guten Bücher, allen voran Der Ekel und Die Wörter. Es bleiben eine Handvoll Philosopheme. Es lohnt sich, die Flaubert-Studie Der Idiot der Familie anzusehen und sollte - wie Negri/Hardts Empire zeigt - marxistische Theoriebildung wieder wichtig werden, gehört auch die Kritik der Dialektischen Vernunft dazu, dieses großartige, ambitionierte und völlig verfranste Unterfangen; Sartres Betrachtungen zur Judenfrage von 1946 könnten heute eine erfrischend unkonventionelle Perspektive in die festgefahrenen Argumentationsraster der Antisemitismusdebatten bringen. Am wichtigsten aber wäre, dass alle, die nach dem Abgesang auf die Postmoderne das "Subjekt" wieder ausrufen, zuerst nachlesen ob das, was sie da gerade neu erfinden, nicht schon bei Sartre steht. Denn es steht vieles dort, und vieles davon klingt sogar postmodern.
Es bleibt, last not least, das Begriffspaar, mit dem Sartre wirklich zum Klassiker wurde: Kontingenz und Freiheit. Zu erkennen, dass im unglücklichen Bewusstsein, in Sartres verzweifeltem Freiheitspathos, ein Glücksversprechen steckt, hat auch heute, post-postmodern seinen Charme. "Sartre", möchte man in Abwandlung des letzten Satzes von Das Sein und das Nichts sagen, "ist eine nutzlose Leidenschaft." Es liegt an uns zu entscheiden, ob wir ihn lesen, oder es lassen.
Für Quereinsteiger
Nicht nur zum Jubiläum halten etliche Getreue Sartre in Ehren. In Frankreich widmet sich seit langem die Groupe d´études Sartriennes, in Amerika die North American Sartre Society und in Deutschland die Sartre Gesellschaft e.V. dem Ziel, Sartres Werk zu erforschen, zu dokumentieren und weiter zu verbreiten. Auf der Homepage der deutschen Sartre-Gesellschaft (www. sartre-gesellschaft.de) sind nach Vorbildungsniveau gestaffelte kurze Einführungen zu Sartre abrufbar sowie Veranstaltungsübersichten und ein Überblick über Neuerscheinungen.
Sartres 100. Geburtstag (und sein 25. Todestag am 15. April) waren und sind Anlass für etliche Sonderausgaben, Diskussions-Veranstaltungen, Fernseh- und Radio-Sendungen. Herauszuheben ist die umfangreiche Ausstellung Sartre in der Bibliothèque Nationale in Paris, in der vor allem viele Original-Manuskripte zu sehen sind (noch bis zum 21. August).
Am kommenden Wochenende, 20. und 21. Juni, wird das romanische Seminar der Universität Bonn einen Journée Sartre mit Fachbeiträgen veranstalten; vom 27.-29. Oktober führt die Sartre Gesellschaft in Berlin ein Kolloquium zu Sartres Moralphilosophie durch.
Als Hilfsmittel für alle, die sich im Sartre-Dickicht verstricken, erschien im Dezember 2004 beim Verlag Honoré Champion Éditions endlich ein Dictionnaire Sartre.
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