Rainer Brüderle ist am vergangenen Wochenende unter großem Applaus zum Spitzenkandidaten seiner Partei gewählt worden. Die Debatte über Sexismus, die er mit seinem zu öffentlich artikulierten Dekolleté-Fetisch kürzlich ausgelöst hatte, konnte ihm offenbar nicht wirklich etwas anhaben. So weit sind wir also noch nicht: Der „Tugendfuror“ kann die alteingesessenen Herren der FDP noch nicht wirklich stürzen.
Das Wort „Tugendfuror“ hat Bundespräsident Joachim Gauck in den Ring geworfen, und es ist geschickt gewählt. „Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde“, kommentierte er in einem Spiegel-Interview den Fall Brüderle und die Sexismus-Debatte.
„Furor“ minimiert dabei den sprichwörtlichen Terror der Tugend zum Wirbel im Wasserglas und erinnert trotzdem noch an Robespierre oder die islamistischen Tugendwächter. Als sei die Aufregung zwar einerseits übertrieben, als ginge es andererseits den Frauen von #Aufschrei aber doch darum, das Wichtigste am Mann unter die Guillotine oder ein höflich geäußertes maskulines Begehren unter die moralische Burka zu zwingen. „Der Terror ist das Feuer der Tugend“, sagte einmal Robespierre. Was für ein Wort!
Eine Anmache ist kein Flirt
Gaucks kurze Bemerkung ist absurd, schon deshalb, weil es in der Sexismus-Debatte natürlich nicht um repressive Tugendforderungen ging, sondern schlicht um anständiges Verhalten gegenüber Frauen, und eigentlich müsste der Streit schon längst zu Ende sein. Denn neben allem üblichen Hickhack zeigte die Debatte auch etwas beruhigend Abgeklärtes; in mancher Hinsicht wirkte sie wie das Resümee einer langen Auseinandersetzung, die sich über einige der grundlegenden Punkte sehr klar ist: Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Flirt und blöder Anmache. Sexismus ist ein Machtinstrument, nutzt Hierarchien aus und stellt diese her.
Klar ist auch, dass Sexismus gern in sogenannten Grauzonen blüht, also nicht immer handgreiflich und deutlich nachweisbar geschieht, sondern oft mit nicht eindeutig identifizierbaren Zwischentönen, die man so oder anders auslegen kann. Klar ist, dass es Unterschiede in der Wahrnehmung von Sexismen gibt. Manche Frauen sind dickfelliger als andere, und klar ist mittlerweile auch, dass Männer Verantwortung tragen, das einzuschätzen. Kurzum, wir wissen, was Sexismus ist; wir haben kluge und sehr reflektierte Meinungen dazu gehört. Jetzt sollte es mal gut sein.
Irgendwie aber liegen in der deutschen Debatten-Kultur chronisch die Nerven blank, nicht nur beim Thema Sexismus. „Empörung“ und „Regulierung“ sind eigentlich die Gegenstände, an denen wir uns gerade abarbeiten. Die themengeilen alten und die superschnellen neuen Medien, so heißt es in etlichen Meta-Kommentaren, schürten nurmehr Erregung; sie lassen die Empörten und die Empörung über die Empörten aufeinanderknallen. Wie wenig an Inhalt übrig bleibt, wenn man die heiße Luft mal ablässt, möchte man lieber gar nicht so genau wissen.
Doch ein Anstoß der Erregung ist fast immer die sogenannte „Political Correctness“, die Matthias Dell hier im Freitag einmal sehr treffend als „Pappkameraden“ bezeichnete. Der Ruf nach Regulierung auf der einen und die Furcht vor ihr auf der anderen Seite bilden ein eigenartig emotional aufgeladenes Diskursgebräu. Im Moment fühlen sich sehr viele gegängelt von den Nichtrauchern, den EU-Richtlinien, den Diversity-Beauftragten, und sie fürchten sich, dass es bald ganz mit jedem Spaß vorbei ist. Zwei Fragen sollte man sich also stellen: Was zwickt so sehr an der Tugend, der „Political Correctness“, die bieder daherkommt, ironiefrei und makellos? Und: Wie streng müssen moralische Vorschriften eigentlich sein?
Es ist vor allem die Rechtschaffenheit ihrer moralischen Entrüstung, die an der Political Correctness so auf die Nerven geht. Sie ist nicht cool, und der Verdacht philisterhafter Unehrlichkeit gegen sie ist nicht aus der Welt zu schaffen, zumal wir das Klebrige am Gefühl aufwallender Empörung alle selbst gut kennen. Empörung ist nämlich zu affektiv, sie ist „erregt“ im wahrsten Sinn des Wortes. Sie ist libidinös aufgeladen, und zwar von einem Widerspruch, den sie selbst zu leugnen versucht. Sie ist zu rigide, will sich nicht beschmutzen und zieht aus der Starrheit gerade einen versteckten Lustgewinn. Sie riecht nach Neid. Sie ist, wie der Voyeurismus – und im Boulevard gehen ja beide Hand in Hand –, ein falscher Umgang mit Ambivalenz. Sie ist nicht ganz koscher, weil sie so tut, als könnte es koscher zugehen im Leben.
Man muss Empörung von Wut unterscheiden. Und vermutlich auch verschiedene Formen der Empörung – eine gute und eine schlechte.
Die schlechte kennen wir alle. Es ist die Wut der Ohnmacht, die am Opfersein auch Lust empfindet, vielleicht empfinden muss. Von einer „Opferidentifikation“ der Political Correctness sprechen Matthias Dusini und Thomas Edlinger in ihrem Pamphlet In Anführungszeichen. Nietzsche nannte das Christentum eine Sklavenmoral. Er traf damit – halb – ins Schwarze. Die Verächter der Political Correctness folgen seiner Argumentation und glauben, er hätte ganz getroffen. Aber so einfach ist die Sache natürlich nicht.
Tugend ist kein Schrecken
Denn der generelle Verdacht gegen die Moral und der Vorwurf ihrer Rigidität hat selber Schlagseite. Die Gegenseite, die sich als Verfechterin der Liberalität geriert, benutzt ihn, um alles an der moralischen Tugendhaftigkeit zu diskreditieren, also auch das, was an deren Erregung richtig war. Hab dich nicht so, verdirb mir nicht den Spaß, sei nicht so kleinlich, lass mal fünf gerade sein, bevormunde mich nicht. Man geriert sich jetzt selbst als das Opfer. Das ist nun nicht weniger dumm und durchsichtig. Die Rigidität am politisch Korrekten, die Besserwisserei, ruft kindliche Affekte des Trotzes auf, stachelt zum Aufbegehren an. Es war schon immer schöner, die eigene Wildheit gegen die elterliche Spießigkeit zu setzen, gerade wenn man weiß, dass die Eltern recht haben.
Philosophen beim Wort zu nehmen, kann verheerende Folgen haben. Robespierre hat den Gedanken Rousseaus, dass ein Gemeinwesen sich unter den allgemeinen Willen, die Volonté générale zu stellen habe, in Politik umgesetzt. Da die Volonté générale absolut gut ist und absolut vernünftig, ist dieses Übertragungsverfahren – rein theoretisch – bombenrichtig. Praktisch ist das Terror. Die Tugend rechtfertigt den Schrecken. Wir kennen das aus allen möglichen Regimen. Wie klar und gewaltig klingt Robespierre in Büchners Drama Dantons Tod: Ohne Tugend ist der Schrecken verderblich, ohne Schrecken ist die Tugend machtlos. „Der Schrecken ist nichts anderes als die schnelle, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit.“
Es ist klar, dass das nicht sein darf. Eine Wahrheit, die das Einzelne restlos unter das Allgemeine zwingt, wird unwahr. Die einzige absolute Aussage, die man treffen kann, ist vermutlich die, dass das Absolute nicht absolut sein darf. Dass nicht die Totalität eines einzigen Prinzips herrschen darf. Nicht so radikal bis zur Guillotine, auch wenn das manchmal ganz praktisch wäre.
Nun herrscht aber ein „Terror der Tugend“ nirgendwo, wirklich nicht, auch wenn Brüssel uns die Glühlampen verbietet, das Rauchen vermiest und überlegt, sexistische Werbung zu verdammen. Bei der Empörung für und wider Regulierung geht es um Vernünftigkeit, aber auch um Terrainkämpfe und Definitionsmacht. Soll nun auch noch der „Negerkönig“ in Pippi Langstrumpf getilgt werden? Stimmt schon, political correctness sucks, aber sie hat eben auch oft recht. Und die Argumente gegen sie sind oft nicht weniger untergriffig und absolutistisch, als die der Moral selbst. Es gibt ja nicht nur einen „Terror der Tugend“, sondern auch einen der Untugend, einen Terror der Coolness, der Sexyness, des Pop – der eben Spiel und Ironie zur absoluten Regel erhebt.
Um Menschen zu Verhaltensänderungen zu bewegen, muss ein bisschen Autorität schon sein. So falsch die absolute Rigidität in sich ist, so sehr profitiert ein Gemeinwesen davon, dass irgendwer die moralische Drecksarbeit macht.
Man sollte aber viele der derzeit heißen Eisen nicht mit moralischen Argumenten diskutieren, sondern als gut begründete Regeln des Umgangs, der Sitten, des guten Geschmacks nicht im christlichen, sondern im eher antiken Sinn. Denn es geht – gerade beim Bann über Sexismus in Öffentlichkeit – in erster Linie um Erleichterung des Alltags. Als Frau möchte man nicht andauernd als sexuelles Wesen angesprochen werden können. So wie man auch nicht wieder von Neuem darüber diskutieren will, ob in einen Bus wirklich der zuerst einsteigen darf, der in der Schlange vorne stand. Mit Tugendfuror hat das nichts zu tun, sondern mit Regeln des zivilen Anstands. Eine der vier antiken Kardinaltugenden war überdies „Besonnenheit“. Als Verhaltensprinzip macht sie das Leben leichter. Als Regierungsprinzip angewandt, hätte sie auch so manches Leben retten können.
Andrea Roedig schrieb zuletzt über die neue Sehnsucht nach der Ehe, speziell unter Homosexuellen
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