Leben auf Widerruf

Globetrotter Im Gefolge der Bundeswehr kommen auch tausende Zivilisten nach Afghanistan. Ihr Dasein im ewigen Dazwischen ist zuweilen sogar glücklich

Ingo Janssen war immer schon so einer. Man könnte sagen ein Minimalist. Als er noch in Berlin lebte, kaufte er sich irgendwann eine kleine Datsche auf Valentinswerder und lebte eine Zeit lang auf der Insel mitten in der Havel. Das 24 Quadratmeter große Häuschen baute er, der Architekt, zum Einraum um, ohne Strom und Kanalisation, aber mit Telefon. Wasser kam aus der Pumpe, der Briefkasten stand auf der Landseite. Und es kursierten diese Geschichten über Ingo auf der Insel, wie er mit dem Dixi-Klo über die Havel schipperte, oder wie Journalisten sich auf ihn stürzten, als er im kleinsten Wahlbezirk Saatwinkel zur Stimmabgabe mit dem Boot anruderte. Seine Hemden und Anzüge hatte er säuberlich im landseitig geparkten Auto hinten auf einer Stange hängen, Schmutzwäsche lagerte im Kofferraum. Jeden Morgen erschien er pünktlich um 9 Uhr in der Innenstadt am Arbeitsplatz, den motorisierten Kleiderschrank immer dabei.

Später, als Valentinswerder doch zu anstrengend wurde, mietete er sich im 11. Stock der so genannten „Giraffe“ ein, einem Hochhaus im Berliner Hansaviertel. Winzig war die Wohnung, aber sie hatte viel Himmel. So war er immer, der Ingo, möglichst ballastfrei, und auch er selbst wirkt wie ein Strichmännchen, dünn und zart und mit einem Gesicht, in dem nur die Augen lachen, als sitze ein permanenter Schalk dahinter, während die Mundwinkel sparsam nach oben oder unten gehen, fast gar nicht.

Irgendwann kam Feldpost von Ingo aus Afghanistan. Die deutsche Bundeswehr lässt nämlich eigens Postkarten für Grüße aus dem Einsatzgebiet drucken, in blassen Farben und mit mühsam zusammengekratzten Sehenswürdigkeiten aus einem Land, das man sich nur als Steinwüste und wilde Berglandschaft vorstellt. Janssen, mit seinem exakten Gespür für Sonderbarkeiten, schickte auch ein cremefarbenes Badetuch mit der Aufschrift „Einsatzkontingent Afghanistan Kunduz“. Wir, zu Hause, hatten nie daran gedacht, was alles an einem Bundeswehreinsatz hängt, welche Gegenstände er hervorbringt, welches Alltagsleben. Feldpost und Feldpostangestellte eben, Kasernenfrisöre und „Verticker“-Läden, in denen Schokolade, Bier, Zeitschriften erhältlich sind und auffallend viel Parfüm und Wässerchen. Annähernd jede Tomate, jedes Reiskorn, das die Bundeswehr verzehrt, ist importiert.

Jetzt also saß Ingo Janssen in Feyzabad im 14 Quadratmeter kleinen „Zimmerchen“ eines Gästehauses, teilte sich Küche und Bad mit einigen der anderen acht europäischen Bewohner und war Bauleiter für ein neu zu errichtendes Polizeihauptquartier der Provinz Badakhshan. „Es geht mir gut“, schrieb er nach Hause, „ich fühle mich wohl.“

Man spürt die Distanz, die Fremdheit, das Tastende

Der Auftrag war befristet, zwölf Monate Afghanistan sollten es insgesamt werden, zehn davon in Badakhshan, einer ruhigen, nicht sonderlich gefährlichen Gegend im äußersten Nordosten des Landes. So spartanisch wie sein Zimmer, so spartanisch war der Weg, der Ingo Janssen zu seinem Job geführt hatte. Erfolglos hatte er sich einmal bei der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit für eine Arbeit in Kunduz beworben. Es ist nicht leicht, dort einzusteigen. Aber dann, Anfang Juli 2009, suchte man kurzfristig eine Vertretung für die Bauleitung in Badakhshan. Mittwochs kam die E-Mail mit der Anfrage, freitags saß Janssen beim Vorstellungsgespräch, eine Woche später im Flugzeug auf der Reise in ein Land, von dem er nichts wusste. Es gab kein Briefing, keine Schulung, nichts. Die so genannten Kurzzeit-Experten werden – gut bezahlt – gern ins kalte Wasser geworfen.

Die Baustelle erschien ihm zunächst mächtig, ein Areal von etwa 20.000 Quadratmetern, auf dem das afghanische Polizeihauptquartier mit mehreren Gebäuden entstehen sollte. Es würde der erste Bau in der Provinz sein, der mit einer Zentralheizung ausgestattet war. „Basic bauen“ nennt Ingo Janssen seine Tätigkeit dort. Wie es die Regel ist, arbeitet er mit einheimischen Firmen und Arbeitskräften. In Feyzabad heißt das vornehmlich Handarbeit. Die Männer schaffen Baumaterial mit Eseln und Schubkarren herbei und heben mit Spaten metertiefe Gruben aus. Es gilt, natürlich, der muslimische Kalender, der Freitag ist frei, der Ramadan wichtig, Sonntage, Weihnachten und Ostern verfallen zu abstrakten Daten im Kalender.

In seinen Briefen beschreibt Ingo die Details, die auffallen, wenn einer fremd ist: die obligatorische Mauer mit Stacheldrahtaufsatz ums Baugelände herum, die provisorische Toi­lette auf der Baustelle, bestehend aus einem Erdloch und so spärlich sichtgeschützt, dass jeder mitbekommt, wer gerade die Örtlichkeit benutzt. Ingo bittet um eine westlichere Toilette und bekommt eine mit Kloschüssel und gepolstertem Sitz. Er beschreibt die vertraute Lampe in seinem Zimmer, die von Ikea stammt, die Schwierigkeiten der Verständigung, die Details am Bau wie die mit Sand gefüllten Eisentore, die an drei „Scharnierchen“ hängen. Er bemerkt, dass auch bei größter Schinderei keiner der Arbeiter sein Käppi absetzt, und dass, wenn niemand zusieht, die Frauen auf der Straße die Burka vorne „wie ein Cabrio“ hochklappen.

Man spürt die Distanz, das Tastende auch, das Künstliche in beide Richtungen – die Europäer hier sind nur auf Abruf da, und zur Bevölkerung gibt es keinen privaten Kontakt. Im Verhältnis zu anderen Einsatzkräften hat Ingo viel mit Einheimischen zu tun, er bewegt sich ja als einziger Westler den ganzen Tag auf der Baustelle. Mit den Arbeitern kommuniziert er über einen ortsansässigen Bauleiter, der leidlich Englisch spricht. Abgesehen von einigen Reisen ins Umland bewegt er sich meist auf der Route zwischen Gästehaus und Baustelle. Morgens holt ihn ein Fahrer mit dem typischen Auto, einem Toyota Corolla, ab, eine halbe Stunde dauert die Fahrt zur drei Kilometer entfernten Baustelle, die Straßenverhältnisse sind nach westlichen Standards chaotisch.

Wann weiß man etwas über ein Land, wann erlebt man es? Sehen, durch eine Scheibe sehen, durch einen Dolmetscher kommunizieren, ist wenig. Alle Schritte müssen mit dem „Risk-Management-Office“ abgesprochen werden. Ingo Janssen findet die Menschen freundlich, „sehr wohlgesonnen“. „Wenn wir mit dem Wagen durch die Basarstraßen zuckeln, ist es für mich unvorstellbar, dass die Granaten schmeißen und Leute entführen sollen.”

Aber man steckt nicht drin im Fremden. Afghanistan ist – so beschreiben es Korrespondenten – eine „Büchse der Pandora“, ein „schwarzes Loch“, unheimlich wie Treibsand, der alle, die ihn ahnungslos betreten, in die Tiefe zieht. Darf man sich in einem Krisengebiet wohlfühlen? Ingo ist kein furchtloser Mann, aber er hat in Feyzabad „geschlafen wie ein Kind“. Er war glücklich, und dieses Gefühl war angenehm und unheimlich zugleich. Manchmal kam ihm der Satz in den Sinn: „Der liebe Gott meint es wirklich gut mit mir.“ So zufrieden war er, weil die Dinge gut liefen, weil das Einfache, auch das Einfache der Ansprüche, leicht zu befriedigen war. Vielleicht spürte er auch die Erleichterung, ein anderes, ein friedlicheres Land zu finden, als er sich vorgestellt hatte. „An solchen Orten konzentrierst du dich auf das, was möglich ist, nicht auf das, was wieder einmal falschläuft“, sagt er. Es habe auch speziell mit diesem Land zu tun, denn viele, die dort gewesen seien, erzählten, dass man in Afghanistan eine schöne Art von Demut gewinne.

Vielleicht geht ja irgendwo ein Türchen auf

Eine andere Seite gab es allerdings auch. Nach zehn Monaten Feyzabad ging Ingo für einen weiteren kurzen Auftrag nach Kunduz. Dieser zweimonatige Aufenthalt fiel dem einstigen Militärdienstverweigerer wesentlich schwerer. Es ging darum, das Bundeswehrlager auszubauen, das später einmal – so das Prinzip der „Nachhaltigkeit“ – zivil genutzt werden soll. Das Gefühl der Bedrohung war hier viel größer. Drohneneinsatz und Bunkeralarm, Leben im Lagercontainer und die Trauerfeier für einen gefallenen Soldaten rückten ihn näher an das heran, was Afghanistan aus offizieller deutscher Perspektive eben auch ist.

Wenn er zurückschaut auf seine Entwicklung, seufzt Ingo nicht ohne Zufriedenheit: „Ja, das passiert eben, wenn man einen einfachen Angestellten vor die Tür setzt“. Egal nämlich, ob er auf Valentinswerder lebte oder in der Giraffe, immer arbeitete er als braver Architekt. Im Jahr 2007 dann liefen die Geschäfte seines Auftraggebers schlecht und er wurde entlassen. Die folgende Arbeitssuche kulminierte in zwei Vorstellungsgesprächen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Es gab die Möglichkeit, kurzfristig eine zeitlich begrenzte Bauleitung in Sri Lanka zu übernehmen oder Leiter des Immobilienmanagements der Sparkasse Bad Oldesloe zu werden. Keine Frage, Ingo Janssen nahm Sri Lanka. „Vielleicht“, dachte er, „geht ja irgendwo ein Türchen auf.“

Nach und nach hat er sein festes Leben, das nie sehr fest war, weiter abgebaut, minimiert. Noch während des Aufenthalts in Sri Lanka gab er seine Berliner Wohnung auf, seitdem lagern seine Habseligkeiten in einem sechs Quadratmeter großen Einlagerungs-Container in Berlin. Wenn er nach Deutschland zurückkommt, wechselt er dort die Sachen, entnimmt, was er braucht, und wohnt in kurzfristig angemieteten Ferienwohnungen. Als er zuletzt in seinem Eigenlager kramte, traf er auf einen Containernachbarn. „Na, auch zu Hause rausgeflogen?“, fragte der.

Solange er von diesen Aufträgen leben kann, sagt Janssen, möchte er so weitermachen, „bis auf Widerruf“. Irgendwo in Sri Lanka hat er gelernt, dass man die Dinge einfach geschehen lassen muss. Sein Minimalismus geht bis in die Sprache hinein. Unwillkürlich macht er vieles kleiner, etwa wenn er von den Schühchen der afghanischen Frauen spricht, seinem Zimmerchen in Feyzabad, den Eselchen auf der Straße oder eben dem Türchen, das aufgeht, vielleicht. Als müsse alles noch viel winziger und leichter werden, bis die große Welt zu einer Miniatur wird, zum kleinen Detail, das er in seinen Briefen so gerne beschreibt. Seit einigen Wochen ist Ingo Janssen in Mexico-City als Bauleiter für Arbeiten am Gebäude der dortigen Deutschen Botschaft. Der Auftrag läuft für ein paar Monate, vielleicht wird er verlängert, wer weiß.

Zum Jahreswechsel besuchte Ingo Freunde in Berlin. Inzwischen trägt er einen kleinen Schnauzbart, der sein Gesicht sehr verändert. Der Bart stammt noch aus Kunduz, da hat der afghanische Friseur, der dienstags, donnerstags und freitags nichts anderes tat, als Bundeswehrsoldaten die Haare zu schneiden, ihm dieses Stück einfach stehen lassen. Janssen fand, das könne ruhig so bleiben. Eigenartig, dass dieser kleine afghanische Bart ihn jetzt fast schon wie einen mexikanischen Gaucho aussehen lässt.


Andrea Roedig lebt als freie Publizistin in Wien. Von 2001 bis 2006 leitete sie das Kulturressort des Freitag. Zuletzt schrieb Sie für uns über Feminismus und die Ex-Taz-Chefredakteurin Bascha Mika

Knapp 5.000 deutsche Soldaten sind in Afghanistan stationiert, die Zahl der zivilen Helfer ist dagegen kaum exakt zu ermitteln, unter der Leitung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit sind es etwa 1.700 Mitarbeiter

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