Gegen Ende neigt sich Olga, die Älteste, ihrer jüngeren Schwester Irina zu, und vielleicht berührt sie sie leicht an der Schulter dabei, wenn sie diesen Satz sagt: "Man heiratet doch nicht aus Liebe ... Wer immer um mich anhielte, ich würde ihn heiraten, wenn er nur ein anständiger Mensch wäre."
Aber Olga wird nicht heiraten und Irina wird nicht lieben und Mascha wird nicht mit dem verheiratet sein, den sie liebt, und Andrej wird auf falsche Weise lieben. Und nach Moskau, nach Moskau!, wird man auch nicht gehen.
Wenn es ein Theaterstück außerhalb des Beckettschen Universums gibt, das von Resignation handelt, dann ist es Anton Tschechows Drei Schwestern. Exemplarisch zeigt das Stück an jeder der auftretenden Figuren eine andere Form des Scheiterns, und seine innere Mechanik ist die, kontinuierlich herababgeschraubte Erwartungen an die Zukunft kontinuierlich noch zu untertreffen. Demut kommt vor dem Fall - "bück dich ruhig", scheint das Leben zu sagen, ich beuge dich noch ein bisschen tiefer. Nicht vom Unglück handelt das Stück, sondern vom Nicht-Glück, dem wie von selbst sich wegschleichenden Leben; nicht von Hiobs Fatum handelt es, nicht vom rasenden Schmerz und der großen Verzweiflung, sondern vom Rumpfleben. Resignation ist post-tragisch. Sie ist nichts Plötzliches, Scharfes, Abgegrenztes, sondern eine Longue Duree, die Antwort auf das Ausbleiben des Glücks über eine lange Zeit. "Wenn man das Glück immer nur in Unterbrechungen, stückchenweise zu fassen kriegt und es dann verliert", sagt Mascha, die Mittlere der Schwestern, "dann wird man langsam aber sicher grob und bösartig".
Arme Mascha. Ihr Unglück scheint zu sein, was auch die Stoa als Übel der Affekte ansieht, den Glauben nämlich, dass man sich zu Recht errege, weil einem ein wahres Gut vorenthalten werde. Es ist der schmale Grat, dieses Körnchen, diese Erbse unter den Ma-tratzen der Prinzessin - der Anspruch auf ein erfülltes Leben, dieses Gefühl, dass man es auch verdient hätte. Unglückserbse könnte man das nennen, diesen kleinen Hochmut gegen die Götter. Er ist die Vorgeschichte jeder Resignation und ihr Nachspiel: die Auflehnung gegen sie.
Arthurs Libido
Wie verhält man sich, wenn das Glück nicht eintritt? Was ist die klügste der Haltungen? Was die geeignetste der Resignationsformen? Gar keine Frage, würde der Herr Schopenhauer sagen, man muss sich nichts vormachen, denn das Glück tritt sowieso nicht ein: "Wir gleichen den eingefangenen Elephanten, die viele Tage entsetzlich toben und ringen, bis sie sehn, dass es fruchtlos ist, und dann plötzlich gelassen ihren Nacken dem Joch bieten, auf immer gebändigt", schreibt er in Die Welt als Wille und Vorstellung. Beim Philosophen der Resignation schlechthin kann man immer diese gewisse Genugtuung heraushören, die er hat beim bezwungenen Willen. Stirb endlich, geh zugrunde.
Der Schopenhauersche Kosmos, der abenteuerlich Kants Erkenntnistheorie mit indischem Buddhismus verquirlt, ist denkbar einfach: Die Welt besteht aus den Prinzipien Wille und Vorstellung. Der Wille ist ein plumpes vitalistisches Prinzip ohne Sinn und Verstand, das nichts will als sich selbst reproduzieren, während die Vorstellung zwar denken kann, leider aber nicht den geringsten Einfluss auf den Willen hat. Die Lösung kann daher nur "anhaltende Mortifikation des Willens" heißen. Nicht die Erkenntnis der Nichtigkeit der Welt bringt uns weiter, das wäre nur der erste Schritt, sondern die Praxis der Askese, Verabscheuung der Genüsse. "Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden", sagt Schopenhauer, "ist ohne ... Verneinung des Willens nicht zu denken." Die Verneinung des Willens zum Leben ist das, "was man gänzliche Resignation oder Heiligkeit nennt."
Schopenhauers Resignationsuniversum trägt deftig masochistische und vor allem sexuell repressive Züge. Denn fast jede Resignation hat einen libidinösen, oder sagen wir besser: einen aus libidinösen Gründen antilibidinösen Kern. Es ist ja nun nicht ausgemacht, warum das Leben Leiden sein soll, nur weil es sich wiederholt und jeder Befriedigung ein neuer Durst folgt. Essen, Trinken und die andere sehr triebhafte Sache, können immer wieder viel Spaß machen, und der einzige Grund, hier griesgrämig zu werden, ist die verhinderte Erfüllung - oder dekadente Langeweile. "Nur wer das Leben nicht genießen kann, sucht nach seinem Sinn" schrieb Georg Seeßlen einmal im Freitag - Schopenhauer dagegen stellt die Askese über die Tugend, denn der Asket will "keine Geschlechtsbefriedigung, unter keiner Bedingung." Erst an diesem Punkt ist Schopenhauer wirklich beruhigt.
Er hätte die Tschechow-Schwestern kräftig aufgemischt.
Lao Tses Langmut
Die Weisheit des Tao klingt manchmal ähnlich und ist doch ganz anders: "Es gibt keine größere Sünde als viele Wünsche", heißt es im Tao Te King. Die müssen weg, die Wünsche. Das Wesen der östlichen Resignation jedoch, ähnlich dem der Stoa, ist "einstimmig leben" - dem Fluss folgen. Resignation ist hier nicht Negation, sondern sich fügen, Einsicht in den Lauf der Welt, "wu wei", nichts tun, mit dem Strich gehen - der Mensch wird klein, er schmiegt sich in die Bewegung der Natur, deren Teil er ist. Östliche, gelassene Resignation ist von der Schopenhauer-grimmigen unterschieden im Maß und der Art der Anstrengung, die sie aufwendet und eben im Umgang mit dem Grundsätzlichen: Yin und Yang sind als Polaritäten gedacht, nicht als sich bekriegende Gegensätze. Das macht den ganzen Unterschied. Östliche Resignation, langmütig und geduldig, wurzelt in einem Vertrauen in die Ordnung der Welt. Sie ist die am meisten beeindruckende und stimmigste Variante des Aufgebens, aber sie opfert dabei kaltblütig lächelnd den Anspruch auf individuelles Glück.
Guerilla-Taktik der Langsamkeit
Das europäische Denken tut sich schwer mit solch kosmischer Gelassenheit. "Da bleibt ja nur Resignation oder Selbstmord", sagen jene, die Resignation nicht mögen. Wieso "oder"? Resignation ist Selbstmord. Sie ist ein Stück Tod im Leben. Aber anders als bei der Liebe oder beim Begehren, die ebenfalls den Tod ins Leben mischen, entsteht die Mischung hier nicht in einem Augenblick, sondern als eine Langzeitwirkung. Resignation ist - gleich der Sucht - ein Fluch, das Tote zu leben. Sie ist der verfehlte Kairos, und die verpasste Erlösung rächt sich ewig.
Oft fühlt sich ja das Leben so an, als befinde man sich auf einer Bergwanderung, die in kreisförmiger Spirale nach oben geht. Wieder und wieder gelangt man an diesen Punkt, an dem man denkt "den Ausblick kenn´ ich doch", nur ist man, mit etwas Glück, ein Stückchen weiter über den Dingen. Eine große Liebe oder der erfüllte große Wunsch hätte den ganzen Berg versetzt. Meist lässt die Wirklichkeit aber keine andere Wahl, als die Hoffung auf das Berge versetzende Glück fahren zu lassen. Wir überleben die Enttäuschung. Aber eben nicht wirklich. Nicht ganz.
Resignation läuft im Kreis. Auf der Ebene des Begehrens ist ihr Gegenpol der Wunsch, auf der Ebene des Politischen wäre es die Revolution. In seinem neuen Buch Eigenblutdoping entwickelt Diedrich Diedrichsen eine schöne Theorie des Loops als verweigerter Fortschrittsgeschichte. Diedrichsen aufnehmend könnte man sagen, dass Wunsch und Revolution Fortschrittsgeschichten sind, der Loop dagegen wäre eine Resignationsgeschichte, in der dennoch politisches Potential steckt. Denn der Loop ist nicht exakte Wiederkehr, er operiert mit leichten Verschiebungen im Gleichen und dadurch - so Diedrichsen - tut sich was. Widerstand sitzt in den Ritzen, in der wohl kalkulierten, minimalen Differenz. Das wäre immerhin Trost in Zeiten, die nicht für große ideelle Revolutionen taugen. Der Loop ist eine Verzögerung, und ehrlich gesagt ist Verzögern heutzutage die Guerilla-Taktik der Wahl. Wir können nicht schneller sein als der Kapitalismus - also sind wir halt langsamer.
Der deutsche Begriff "Resignation" lässt sich nicht eins zu eins übersetzen. Im Englischen würde ihm weniger "resignation" als vielmehr "to relinquish", "surrender" oder "deliverance" entsprechen. Oft wird damit das Wort "resilience" verbunden - Schlagfestigkeit. Es lässt denken an etwas Festes, das doch nachgiebig ist, eine flexible Masse, die, obwohl einmal aus ihrer Form gebracht, doch wieder in sie zurückkehrt, wenn der Druck nachlässt. Nur nicht entzweibrechen. Was Erfolg ausmache im Leben, sagt die Literaturkritikerin Joan Acocella, sei eine Kombination aus "patience, resilience and courage".
Das Recht der Erbse
Resignation, gleich welcher Art, ob klug oder dumm, wütend oder demütig, verzweifelt oder grimmig, ist abgestorbenes Begehren, sie ist aber gleichzeitig Bedingung fürs Überleben. Wir würden draufgehen, wenn wir die Wünsche nicht loslassen würden. Wir müssen ja weiter. Leben. Liegt also einmal wieder alles nur am richtigen Maß - und als Kalenderspruch würde es lauten: "Resigniere so viel wie nötig und so wenig wie möglich"? Ja schon. Und doch ein bisschen anders, denn die Wahrheit liegt nicht im Mittelweg, sondern im Zusammendenken von Widersprüchen.
Da wäre Maschas Wut über das vorenthaltene Glück. Die Wut ist unangemessen, denn einen Anspruch auf Glück zu erheben, ist dumm - und doch ist es das Klügste, was wir tun können. Wir haben keine andere Chance. Da wäre aber auch noch Irina, die jüngste der Tschechow Schwestern. "Ich weine nicht, ich weine nicht ... Genug ... siehst du, ich weine schon nicht mehr", sagt sie, ihre Resignation ist beherrschte Verzweiflung. Für diese Haltung könnte man eine Lanze brechen, denn sie birgt einen gemäßigten Trotz gegen´s Fatum. Verzweiflung hält die Wunde offen, sie erinnert daran, dass sie sich nicht freiwillig ergeben hat. Das mag nicht die klügste aller Haltungen sein, aber sie ist weise darin, dass sie das Tote in der Resignation fühlbar hält. Was mehr kann Leben sein? Differenz aufrecht erhalten, die Erbse nicht vergessen. Resilience also.
Das Märchen aber geht so: "Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten; aber es sollte eine richtige Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt umher, um eine solche zu finden, aber überall stand etwas im Wege." Die Erbse, die die Königinmutter unter 20 Matratzen und 20 Eiderdaunenbetten legt, um herauszubekommen, ob die Frau, die draußen vor dem Schloss im Regen steht, wirklich ist, was sie vorgibt zu sein, ist ein Test.
Ganz braun und blau am Körper sei sie, sagt die Besucherin am Morgen, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe. "Nun sahen sie, dass sie eine richtige Prinzessin war." Und es kann geheiratet werden.
Nicht von der falschen Empfindlichkeit handelt Andersens Märchen also, sondern von der richtigen. Es handelt auch von der Falschheit des Sehens und der Wahrheit des Fühlens. Und es handelt eben vom Recht der Erbse. "Die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn niemand sie gestohlen hat. Seht", so lautet der letzte Satz, "das ist eine wahre Geschichte."
Gekürzter und leicht bearbeiteter Vorabdruck aus der östereichischen Literaturzeitschrift Wespennest Nr. 153 zum Thema Resignation. Ab dem 24. November im Buchhandel oder direkt unter www.wespennest.at.
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