Schreib es auf!

Unvoreingenommen unbeugsam Carolin Emckes Briefe "Von den Kriegen"

Was ist der Unterschied zwischen einem Voyeur und einem Zeugen? Beide nehmen teil an einem Geschehen, in das sie nur partiell verwickelt sind. Ihre Haltung besteht in einer Mischung aus Nähe und Abstand. Doch scheinen die Pole Identifikation und Distanz beim Voyeur in die genau entgegen gesetzte Richtung zu weisen als beim Zeugen. Außerdem ist der Voyeur stumm. Der Zeuge aber spricht.

Carolin Emcke ist oft gefragt worden, welchen abstrusen Thrill sie sucht, wenn sie sich - dazu als Frau - immer wieder in Kriegs- und Krisengebiete begibt, um als Reporterin für den Spiegel zu berichten. Emcke versteht die Frage nach dem Lustgewinn nicht. "Ich liebe es, fremd zu sein, mich verwandeln zu müssen und die eigene Herkunft zu vergessen", schreibt sie. Das klingt verdammt harmlos für eine, die sich, meist nur in Begleitung eines Fotografen, für Wochen im Kosovo, im Libanon, in Afghanistan absetzen lässt und im Nordirak auch mal unter Beschuss gerät. Fremd sein ist nur der eine Teil. Den anderen Teil zeigt ihr sehr berührendes Buch. Emcke treibt etwas um, das man ein unerschütterliches Ethos nennen könnte.

Von den Kriegen sind überarbeitete E-mail-Briefe, die Emcke nach ihren Reisen verfasste, um sich selbst aus ihrer Sprachlosigkeit den daheimgebliebenen Freunden gegenüber zu befreien. Sie "wussten nicht zu fragen, und ich wusste nicht zu antworten." So gibt Emcke sozusagen die Rückseite ihrer journalistischen Arbeit preis, und es entsteht ein ungewöhnliches Genre persönlich perspektivierter Reportage. Neben den Berichten des Erlebten läuft immer eine Spur der Reflexion mit, der Reflexion auf die eigenen Gefühle, oft sind es Scham und Beschämung, der Reflexion auf die Funktion der eigenen Berichterstattung - welcher Partei nutzt sie? - und der Reflexion auf die Bedingungen des eigenen Schreibens: Welcher Information kann man glauben? Warum kommen in Kriegsreportagen eigentlich immer so viele nebensächliche Details vor? Da Emcke promovierte Philosophin ist, beschreibt sie manches auch mit kurzen Hinweisen auf Paul Celan, Hannah Arendt, Walter Benjamin oder die Ilias. Das geschieht nicht als elitärer Manierismus, sondern immer im Bemühen zu verstehen, zu deuten, und macht die Texte in einem angenehmen Sinn zu intellektuellen Reportagen, die - für geisteswissenschaftlichen Geschmack - wesentlich mehr erklären, als rein politische Analysen.

Briefe an Freunde - Emcke hat einen weiten, persönlichen, aber nicht intimen Freundschaftsbegriff. Von Freunden auch auf Reisen ist oft die Rede. Das macht die unkomplizierte Nähe aus, die auch in der Selbstoffenbarung nie aufdringlich wird. Zwischen Kosovo I und II, Kolumbien und Pakistan lernt man die Autorin natürlich als Person kennen. Als eine einfühlsame, halsstarrige: "Aayed Attwat weigert sich, mit mir zu sprechen, weil er mich für eine Jüdin hält. Ich weigere mich, das zu verneinen. Wie käme ich dazu?" Als eine unbeeindruckte, skeptische, ängstliche und genussvolle. "Glücklicherweise gab es Gemeinsamkeiten: die Leidenschaft für gutes Essen zu fast allen Tages- und Nachtzeiten". Immer sind es einzelne Personen, Details der Beobachtung, Stimmungen von denen sich Emcke berühren lässt und die sie weiter führen, ihr ein Land, einen Konflikt, eine Mentalität erklären. Immer scheint sie bereit, sich weit einzulassen. Sie begibt sich in die 1,40 mal 0,80 Meter enge Zelle, in der Moujib Termos, Mitglied der Hisbollah, gefangen gehalten und gefoltert wurde, sie begibt sich - nicht ganz freiwillig - unter die Burkha: "Und dann bemerkt man, dass man diese Frauen tatsächlich so behandelt, als seien sie Insekten, widerliche Insekten und im nächstem Moment ekelt man sich vor sich selbst, weil man sich so vor ihnen ekelt." Und immer ist sie beides: unvoreingenommen und unbeugsam zugleich.

Sie sei auf ihren Reisen selten direkt um Hilfe gebeten worden, schreibt Emcke, aber sehr oft habe man ihr gesagt: Schreib das auf. Wenn Menschen lange im Unrecht leben, verschiebt sich ihr Maßstab, sie wissen nicht, ob es noch Unrecht ist, was ihnen wiederfährt. Es muss benannt werden, anerkannt, einer Öffentlichkeit mitgeteilt, darin liegt eine Genugtuung, auch wenn sich an den Umständen selbst nichts ändert. Und genau hier liegt das Engagement Emckes, es ist bestimmt von einem vorbehaltlosen Ethos der Zeugenschaft. Sie berichtet. Und sie tut es nicht kühl, nicht zynisch, sondern mit der Bereitschaft, sich berühren, sich erschrecken, sich erschüttern zu lassen. Die Zeugin als Medium.

Nicht nur "von den Kriegen" berichtet Emcke, sie berichtet von den Rändern der von uns wahrgenommenen Welt, aus Regionen, die von schleichenden Katastrophen zerfressen sind. Ein Krieg kann wenigstens aufhören, aber an den "Orten ohne Trost", wie sie das nennt, bleibt nicht mal dies als Hoffung. Die härtesten Berichte Emckes sind die aus den Freihandelszonen Nicaraguas, wo Guillermina 200 Cordobas in der Woche verdient und 91 davon für die anderthalbstündige Busfahrt zur Fabrik ausgibt, und von den Kindern in Bukarest, die in der Kanalisation wohnen. Den kleinen Augustin, der Lack schnüffelt und seine Schwester hysterisch anschreit, vergleicht Emcke mit einer Wüstenpflanze, die Gift verspritzt, um sich einen kleinen Wasservorrat zu sichern.

Nichts von all dem macht den Leser zum Voyeur, dazu ist der Blick zu reflektiert, zu engagiert. Doch gerade die Reportagen von den "Orten ohne Trost" hinterlassen ein beklemmendes Gefühl der Hemmung. Die Zeugin hat gesprochen, sie hat ihre Schuldigkeit getan in der besten Tradition kritischer Aufklärung. Doch was machen wir Leser mit diesem Wissen? Wozu Krisenberichterstattung, wenn sie nicht einen Deut ändern wird? Schlechter Idealismus wäre es doch zu sagen, dass die Öffentlichkeit Kenntnis nimmt, sei Hoffnung genug.

Carolin Emcke: Von den Kriegen. Briefe an Freunde, S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2004, 314 S., 18,90 EUR


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