„Sie haben es nicht gelernt“

Im Gespräch Jungen in der Pubertät reden lieber über Hardcore-Pornos als über Gefühle, sagt der Sexualpädagoge Horst Stein
Jugendliche beim Unterscheiden von Realität und Fantasie
Jugendliche beim Unterscheiden von Realität und Fantasie

Foto: Moscia/Archivolatina/laif

Der Freitag: Herr Stein, Sie führen Workshops zum Thema „Sex, Liebe, Partnerschaft“ an Schulen durch, meist mit Jungen zwischen 13 und 16. Um welche Themen geht es da?

Horst Stein: Ich bin immer wieder überrascht, wie geschlechts-spezifisch der Zugang ist. Meist spricht man mit den Jungen erst einmal zwei Stunden lang über Körper, Selbstbefriedigung, Pornografie, Homosexualität, Pubertät. Danach kann man dann gut über Liebe, Partnerschaft und Gefühle reden. Direkt mit diesen Themen einzusteigen, funktioniert aber nicht. Bei den Mädchen ist es genau umgekehrt. Die Kolleginnen, die mit Mädchen arbeiten, berichten, dass es in ihren Workshops ganz viel um Gefühle geht, und wenn sie ausführlich das Thema Beziehung beackert haben, reden Mädchen auch über sexuelle Inhalte. Es ist mir fast ein bisschen unangenehm, das so klischeehaft darzustellen, aber es ist die Praxis.

Wie beginnen Ihre Workshops?

Die Jungen werfen auf die Frage, was ihnen zu Sexualität und Partnerschaft einfällt, oft pornogra-fische Begriffe in den Raum und schauen, wie ich reagiere. Bei der letzten Moderation mit 14-Jährigen kam als erstes Wort „Fisten“, dann „Bondage“ und „Kamasutra“, gefolgt von „Gang Bang“. Als ich fragte, ob es da noch etwas gibt, erklang ganz kleinlaut hinten aus einer Ecke: „Liebe“? Das ist ein typisches Verhalten.

Warum drücken sich die Jungs so vulgär aus?

Das dient dem Angeben in der Peergroup, und es baut Distanz auf, man muss dann nicht in die Tiefe gehen. Die Jungen reden so, wie sie es gewohnt sind, und meist haben sie nicht gelernt, über Gefühle zu sprechen. Wenn ich nachfrage, ergibt sich ein eher trauriges Bild. Die Wenigsten sprechen mit ihren Vätern über Sexualität – oft verweigern sie das auch, weil sie es uncool finden. Trotzdem sind sie ja schlau und schnell, und sie können im Verlauf eines Workshops auch die Sprache wechseln, wenn sie merken: Es geht auch nicht vulgär.

Welche Rolle spielt Pornografie in der Vorstellungswelt der Teenager?

Mir kommt es manchmal vor, als würde jetzt die „Internetpornografie“ zum großen Sexteufel, ähnlich wie Masturbation in früheren Zeiten. Der Verfall der Sitten bei der Jugend ist ja ein zeitloses Motiv. Verteufeln hilft aber nicht, die Internetpornografie ist eine gesellschaftliche Realität, und sie wird immer mehr Generationen immer stärker prägen. Daher ist es immens wichtig, sie zu the-matisieren. Der sehr frühe Zugang zu diesen Bildern unterscheidet die heutige Generation von den vorherigen stark. Nicht alle schauen Pornografie aktiv, aber fast alle hatten in irgendeiner Form Kontakt, erst recht, seit es Smartphones gibt. Die ganz Coolen haben immer auch Hardcore-Videos heruntergeladen und zeigen das dann natürlich herum.

Und wie benutzen die Jungen Pornografie?

Nach meiner Erfahrung gibt es zwei Verwendungsweisen, die man gut auseinanderhalten muss. Da ist einerseits das gemeinsame Anschauen in der Peergroup. Es geht dabei um Rangordnungen und Übertrumpfen, man will auch Extreme austesten, nach dem Motto: Ich hab noch ein krasseres Video. Etwas ganz anderes ist es, wenn sie Pornografie allein für sich zur Selbstbefriedigung nutzen.

Was ist dann anders?

Es ist meine Erfahrung, und das sagen auch Studien, dass für den privaten Gebrauch generell eher die klassischen und nicht die ganz harten Inhalte gewählt werden. Außerdem schauen sie nicht nur Pornos, sondern diskutieren auch in Internetforen darüber. Das kann korrigierend wirken und wird oft zu wenig berücksichtigt. Es bleibt aber natürlich ein Problem, dass sie vornehmlich Pornobilder im Kopf haben.

Die pornografischen Körpernormen und Rollenvorstellungen werden fraglos übernommen?

Früher habe ich in den Moderationen immer ein wissenschaftliches Foto einer Vagina gezeigt, mit normaler Schambehaarung. Vor fünf Jahren geschah es das erste Mal, dass die 13- bis 14-Jährigen sich empörten: „Wääh, grauslich, die ist ja nicht rasiert.“ Seitdem zeige ich das Bild nicht mehr, ich zeichne nur noch. Die Pornos verändern die Vorstellungen vom angeblich normalen Körper. Demnach hat die Frau haarlos und rasiert zu sein. Wenn sie es nicht ist, dann fällt das schon unter „Spezialinteresse“. Es entsteht ein enormer Leistungsdruck. Den Jungen ist die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, wenn ich ihnen erzähle, dass die Penisse, die sie dort in den Pornos sehen, steifgespritzt sind.

Und die Mädchen schauen keine Pornos ...

Ja, das ist laut einer Hamburger Studie einer der größten Gender-Unterschiede derzeit. Fast alle Jungen sehen Pornos, die Mädchen haben sehr wenig Zugang dazu. Das heißt nicht, dass sie nicht mal reinschauen, aber sie betreiben es nicht aktiv. Warum das so ist, bleibt eher rätselhaft. Die Mädchen sind relativ reif und tolerant. Sie sagen: „Für die Jungs ist es halt wichtig, aber für meine Sexualität brauche ich’s nicht.“ Sehr wenige Mädchen integrieren Pornos in ihr Bedürfnisskript.

Liegt das nicht einfach daran, dass die meisten Pornos für Männer gemacht sind?

Sicher hängt ihr Desinteresse oder ihre Abscheu auch damit zusammen. Vielleicht bestehen aber auch einfach Unterschiede in den Bedürfnissen und Fantasien. Die Mädchen konsumieren ausgiebig und sehr früh Beziehungssoaps, in denen zwar nicht eindeutig pornografische, aber sexualisierte Inhalte vorkommen. Und diese Serien werden nicht gerade von genderkritischen Leuten gemacht.

Können die Jugendlichen zwischen Realität und Fantasie unterscheiden?

Das traue ich mich nicht zu sagen. Wer kann das in der Sexualität schon so genau auseinanderhalten? Wichtig ist aber, dass sie eine Medienkompetenz entwickeln, also eine richtige Einschätzung der Bilder, die sie sehen. In den Workshops verweigere ich Pornobilder und zeichne stattdessen viel. So male ich zum Beispiel anfangs ein einfaches Oval, in dem das Wort „Sex“ steht. Im Verlauf der Moderation wird aus dem Wort Sex eine Torte und die Pornografie steht in einer Ecke. Sie ist nur ein Stück vom Ganzen. Wenn die Jungen erkennen, dass Sexualität ein unglaublich reichhaltiges Gebiet ist und dass sie offensichtlich bislang ein Tortenstück für den ganzen Kuchen gehalten haben, dann beginnen sie darüber nachzudenken, was ihnen in Pornos alles nicht gezeigt wird.

Was könnten die Schulen tun?

Man muss nicht besonders intelligent sein, um zu bemerken, dass Sexualität in fast jedem Fach eine Rolle spielt. Die ganze Kunstgeschichte ist voll davon, die Literatur. Aber es wird nicht beim Namen genannt. Alles, was an der Sexualität über die rein biologischen Tatsachen hinausgeht, scheint den Schulen Angst zu machen. Es fehlt den Lehrern an Mut, aber auch an Erfahrung – und an einer geeigneten Sprache. Sie zensieren sich selbst, weil sie sich nicht in Gefahr bringen wollen und weil sie sich nicht in ein wohlwollendes und unterstützendes System eingebettet fühlen. Wir als externe Berater sind ein Anstoß, und ich bin oft ganz zufrieden zu sehen, wie viel man punktuell erreichen kann. Für mich wäre es aber wichtig, dass diese Arbeit dann weitergeht – und zwar fächerübergreifend.

Das heißt, wir reden eigentlich immer noch nicht wirklich über Sexualität.

Von der sogenannten sexuellen Revolution merke ich recht wenig. Man könnte meinen, sie hätte gar nicht stattgefunden. Und man spürt die Sehnsucht der Jugendlichen, sich über das Thema Sex auszutauschen. Wenn es gut läuft, kann man als externer Berater auch ein Vertrauensverhältnis aufbauen, das es den Jugendlichen erlaubt, Fragen zu stellen, die sie einer Lehrperson nicht stellen würden. Ich hätte meinen Lehrern, die mich prüften, auch nicht alles erzählt. Ich bin froh, wenn die Jungen am Ende der Sitzung draufkommen, dass es ein Zauberwort für sehr viele Probleme gibt, nämlich: „miteinander reden“. Das hört sich nicht gut an für Jungen, aber oft sind die uncoolsten und einfachsten Dinge die schwierigsten.

Horst Stein, geboren 1970 in Eggerding/Oberösterreich, ist bildender Künstler, Fotograf und sexualpädagogischer Berater in Wien. Seit mehr als zehn Jahren moderiert er Workshops über Sexualität an Schulen.

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