Vom Umtausch ausgeschlossen

Ideologie Die Philosophin Renata Salecl hat ein kritisches Buch über unseren Zwang zur Wahl geschrieben. Da wäre mehr drin gewesen
Ausgabe 22/2014

Menschen, die schon einmal bei Rossmann vor gigantischen sieben Regalmetern Haarpflegeprodukten gestanden haben, wissen: Wählen macht nicht glücklich. Zu viel Option wirkt hemmend, erst recht im paradoxen Trickrätsel eines wild gewordenen Warensystems. Zwischen dem Shampoo Alterra Repair Macadamia und Alterra Sensitiv Mandel ist nicht wirklich ein Unterschied auszumachen, gewählt werden muss aber trotzdem, und nach viel zu vielen in hoffnungsloser Entscheidungsunfähigkeitsverzweiflung vor dem Regal verbrachten Minuten wünscht sich jeder vernünftige Mensch ein bisschen Warenknappheit sozialistischer Prägung zurück.

Renata Salecl kennt den Sozialismus. 1962 in Ljubljana geboren, erinnert sich die Soziologin und Ex-Frau von Slavoj Žižek zumindest daran, wie es war, als es noch nicht so viele Optionen gab. Aus dem Erfahrungshintergrund eines Lebens in beiden Systemen – Salecl hatte Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in London, New York, Berlin und lehrt heute wieder in Ljubljana – ist ihr Buch Tyrannei der Freiheit gestrickt, eine kulturwissenschaftlich-psychoanalytisch inspirierte Kritik der kapitalistischen „Ideologie der Wahl“ und der aus ihr folgenden Widersprüche.

„Ideologisch“ am herrschenden System ist nach Salecl, dass es uns glauben macht, Entscheiden sei ein rationaler Vorgang des Homo oeconomicus. Die unbewussten und triebhaften Dimensionen jeder Wahl seien hier ebenso verschwiegen wie die angstauslösenden. Denn Wahl fordere in ihrem Entweder-Oder immer, dass eine Option aufgegeben wird, sie triggere das ursprüngliche Trauma einer Verlusterfahrung. Paradoxerweise führe die Ideologie der Wahl zu einer „Kultur der Unentschiedenheit“, die Menschen wollten sich nicht mehr festlegen, weder auf eine Identität, noch auf eine Partnerschaft, noch wollten sie sich von biologischen Gegebenheiten – der natürlichen Zeugungsfähigkeit beispielsweise – einschränken lassen. Gleichzeitig stiegen mit den Wahlmöglichkeiten aber die Kontrollzwänge.

Lacanianische Passagen

Ideologisch sei am kapitalistischen System aber auch, dass es behaupte, man habe das eigene Schicksal in der Hand. Die Erzählung vom Selfmademan lasse uns wie die Tanzbären immer weiter ums eigene Selbst kreisen, uns für jeden Erfolg, aber eben auch jeden Misserfolg selbst die Schuld geben, sagt Salecl. Das binde Energien, die wir besser für gesellschaftliche Veränderung einsetzen sollten. Auch hier gilt, dass zu viel Wahl in Wahllosigkeit und soziale Handlungshemmung umschlägt.

So weit, so gut, so bekannt. Intellektuell anregend sind die psychoanalytisch und lacanianisch angehauchten Passagen des Buches, in denen Salecl zu erklären versucht, warum Wahl notwendig, doch eigentlich unmöglich ist, oder (eher unerklärt) feststellt, dass eine Hysterikerin gekaufte Waren immer wieder umtauscht, ein Psychotiker aber nicht. Hier erwähnt Salecl auch, dass Wahl immer unter dem Blick der anderen stattfinde, also zu einem großen Teil von außen beeinflusst und von Scham gelenkt sei.

Letztlich verfolgt die Autorin die grundsätzliche Frage, wie ein gesellschaftliches System auf die psychische Verfassung der Einzelnen zurückschlägt, ihre Aussagen bleiben aber unbestimmt. Ob psychotische Erkrankungen in kapitalistischen Systemen zunehmen oder ob – wie von einigen postmodernen Psychoanalytikerinnen diskutiert – in der Genussökonomie das Gesetz des Vaters, das Über-Ich, der kastrierende Große Andere abhanden kommt, will Salecl nicht definitiv bestätigen. Das Gesetz des Vaters sei heute der Markt, meint sie.

Vieles am Thema Wahlfreiheit im Kapitalismus wäre auch jenseits der Lacan-Begriffsmaschinerie interessant. Zum Beispiel eine Analyse dessen, was genau am Wählen unglücklich macht, aber auch, warum wir uns immer wieder auf das Spiel einlassen. Diesen Punkt, die Lust an der Wahl, sieht Salecl zu wenig und bekommt daher auch die wesentliche Ambivalenz nicht wirklich in den Blick; den Grund also, warum der Markt sich mit seinen unseligen 100.000 Shampoosorten eben doch immer wieder durchsetzt. Interessant hätte auch sein können, den Mechanismus der Handlungshemmung bei zu viel Wahlfreiheit genauer zu beschreiben. Offenbar gibt es ja für manche Entscheidungen doch so etwas wie rationale Gründe und gute Kriterien. Ein System, das alles Beliebige, Gleichwertige und Kontingente unter die Auspizien der Wahl stellt, appelliert an diese Rationalität und unterminiert sie zugleich permanent. Der Konsument gleicht vielleicht jener Versuchsratte im Käfig, die entweder resigniert oder wie wild auf die verschiedenen Futtertasten springt, weil es eigentlich keine Regel gibt. Die genaue Analyse solcher Muster hätte eine wirkliche Ideologiekritik abgeben können und vielleicht auch erklärt, warum Freiheit im Kapitalismus den Namen Tyrannei verdient.

Beseufzter Common Sense

All das aber findet sich nicht in Salecls Essay. Die Tyrannei der Freiheit liest sich über weite Strecken phrasenhaft. Wie eine kleine Mühle klappert das Buch vor sich hin und kommt auch in seinen Thesen dann doch nur flunderplatt daher. Dass Wahl niemals einen rationalen Kern habe, immer auch mit Verlust einhergehe und daher ängstige – je nun, das hat selbst die kapitalistische „Ideologie“, gerade in Form des Marketings, gut begriffen und schlägt mächtig Kapital daraus. Auch die Beobachtung, dass wir heute auf krank machende Weise für alles Verantwortung übernehmen und uns lieber selbst zum Kunstwerk formen als für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen, ist viel beseufzter Common Sense.

Um ihre Ideen wirklich produktiv zu machen, hätte Salecl ihr Thema präziser fassen müssen. Stattdessen ist jedes x-beliebige Beispiel grob zusammengezimmert (die chinesische Speisekarte, die amerikanische Redensart let’s have lunch, Internetdating) und dient als Beleg für den zeitdiagnostischen Rundumschlag. Alles ist „heutzutage“ so und so und immer irgendwie eine „Ideologie“. Der tantenhaft empörte Ton des Textes geht vermutlich weniger auf das Konto Salecls als auf das der deutschen Übersetzung. Da wird schnippisch über die trostlose Kultur des „hooking“ geurteilt, über Schönheitschirurgie und die Abgründe eines falschen Starkults. Ja schaut nur, heutzutage verliert der Mensch sich selbst in allen seinen Möglichkeiten. Vielleicht möchte das breite Publikum das lesen und befriedigt nicken. Im Spezielleren hätte man sich besseren Stoff zum Nachdenken gewünscht.

Die Tyrannei der Freiheit. Warum es eine Zumutung ist, sich anhaltend entscheiden zu müssen Renata Salecl Aus dem Englischen von Yvonne Badal, Blessing 2014, 238 S., 16,99 €

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