Ziemlich oft erinnere ich mich an eine Frage, die mein alter Philosophieprofessor stellte, als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen Ende der 1980er Jahre versuchten, feministische Philosophie an der Freien Universität Berlin zu etablieren: „Ist Geschlecht eine Kategorie im aristotelischen Sinn?“ Hm, Aristoteles. Zehn Kategorien. „Qualität“ und „Quantität“ gehören dazu, „Wo“ und „Wann“, aber auch so was wie ousia, die „Substanz“. Eine Substanz ist zum Beispiel „Baum“, „Pferd“ oder „Mensch“.
Nein, fand ich damals, und das gilt heute noch. Man kann zwar Aristoteles’ Begriffe aufs Geschlechtliche anwenden, aber „Geschlecht“ selbst taugt nicht zur streng metaphysischen Kategorie. Mann-/Frausein ist schlicht zu empirisch und bitte auch nicht so ewig gültig wie die logisch notwendigen Allgemeinbegriffe. Auf die Antwort hin wandte sich der Professor – ein ernsthafter Denker – beruhigt ab und befand, er müsse sich nicht weiter mit feministischer Philosophie beschäftigen.
Die kleine Szene spielt noch vor der Zeit der Genderstudies, die inzwischen gezeigt haben, dass und wie man in jeder noch so harten Wissenschaft Geschlechtliches zum Thema machen kann. Aber im Grunde bleibt die Frage, wie grundlegend, wie ergiebig die Kategorie Geschlecht überhaupt sein kann. Oder anders und bezogen aufs Zeitungmachen gestellt: Ist Gender eigentlich ein Gegenstand, mit dem sich jede Woche aufs Neue eine gute Seite gestalten lässt? Geschlecht und Geschlechtliches ist natürlich ein Seller, weil nah am Sex. Irgendwas Interessantes findet sich da immer, von der ewigen Alice Schwarzer bis zu Lena Dunhams Girligkeiten. Aber ergibt das etwas Gehaltvolles, 52 Mal im Jahr?
Politik, Kultur, Gesellschaft?
Zu Anfang hieß die Genderseite des Freitag aus guten feministischen Gründen „Frauen“. Als ich im Jahr 2001 in die Redaktion kam, wechselten sich die Rubriken „Frauen“ und „Geschlechter“ wöchentlich ab. Weil das nicht so recht einsichtig war, strichen wir irgendwann die „Frauen“ und reduzierten die Erscheinungsweise der „Geschlechter“ auf zweiwöchentlich, nicht weil das Thema nicht wichtig gewesen wäre, sondern aus territorialen Gründen.
Denn eines der Probleme der Geschlechter-Seite ist, dass „Geschlecht“ nicht nur keine aristotelische Kategorie ist, sondern auch keine publizistische Rubrik wie „Kultur“, „Literatur“, „Politik“ oder „Gesellschaft“. Der Genderaspekt ist einerseits ubiquitär – fast jeder Film, jedes Buch, jede Kunst handelt irgendwie auch vom Geschlecht–, andererseits aber ist er als Thema oder Perspektive sehr eng gefasst. Gehört die Besprechung eines Films über Coming- out nun auf die Genderseite oder unter die Rubrik „Film“? Steht das Porträt einer Künstlerin, die Missbrauch thematisiert, unter „Kultur“ oder unter „Frauen“? Ein Kommentar zur Quotenregelung läuft unter Politik. Fürs Zeitungmachen ist Gender als Thema eigentlich zu weit und als Perspektive zu eng. Bleibt nur: Vermischtes.
Das führt zur nicht ganz unheiklen Frage, wer die Geschlechterthemen macht – immer noch meist Frauen – und wo im Heft sie stehen: eher hinten. In meiner Zeit als Freitag-Redakteurin gab es regelmäßige Konflikte rund um den 8. März, weil ich der Auffassung war, die Politikredaktion könnte sich zu diesem Anlass auch einmal ums Frauenthema kümmern, oder weil ich angeblich unpassende Themen – Prostitution, Genitalbeschneidung – zu nah an den sozialistischen Feiertag zur Ehrung des Weiblichen legte.
Die spezielle Rubrik „Frauen“ oder „Gender“ hantiert mit der Zwickmühle, in der sich Geschlechterpolitik stets befand: Dem Geschlecht einen eigenen Raum zuzuweisen, führt zu einer Selbst-Ghettoisierung. Wünschenswerter wäre es ja, dass der feministische, gendersensible Blick einfach in allen Rubriken mitlaufen würde, in allen Texten von allen Autor_innen. Das passiert natürlich nicht, und da viele Inhalte und Positionen ohne ihr geschütztes Gehege ganz unter den Tisch fielen, spricht immer noch einiges für die Genderseite.
Trotzdem bleibt der alte Haken, dass wir mit der fortwährenden Thematisierung von Geschlecht auch das am Leben erhalten, was wir eigentlich loswerden wollten. Der Traum der klassischen Frauenbewegung war ja, sich selbst überflüssig zu machen. Wenn einmal das Ziel der Gleichberechtigung erreicht sei, brauche es auch keinen Feminismus mehr. Das war die Vorstellung. Vielleicht schwang in ihr der Wunsch mit, nicht immer und andauernd und vielleicht irgendwann auch gar nicht mehr über Geschlecht nachdenken zu müssen. Sich endlich mit etwas anderem beschäftigen zu können. Welche Befreiung! Sie ist nicht eingetreten, wie wir wissen.
Das liegt unter anderem daran, dass Gleichberechtigung im erhofften Sinn nicht stattfand. Und dass sich das Problemspektrum zu Recht um die Aspekte race und class und ihre Überschneidung mit gender erweitert hat. Das Thema Geschlechtergerechtigkeit ist also nicht kleiner geworden, sondern komplexer. Hinzu kommt, dass „Geschlecht“ selbst diffundiert. Der alte Feminismus arbeitete noch auf der Geschäftsgrundlage von zwei Geschlechtern. Jetzt hat sich die Sache vervielfältigt. „Ich will Geschlechter nicht abschaffen, ich möchte mehr Optionen. Und dass Leute frei sind, verschiedene Formen von Gender auszudrücken“, sagte kürzlich Laurie Penny in einem Freitag-Interview (auf der Genderseite natürlich). Sehr vernünftig.
Diese Verflüssigung hat allerdings Folgen. Sowohl für genderpolitische Strategien als auch für die Rolle, die Geschlechtsidentität insgesamt spielen wird. Die politisch oder sexuell motivierte Queerness operiert nicht mehr exklusiv, sondern durchlässig-inklusiv. Die feministischen Women-only-Zonen sind lange überholt. Sie wurden aber nicht nur deshalb problematisch, weil sowieso nicht klar ist, was eine Frau oder einen Mann denn genau auszeichnet, sondern weil Ausschlüsse selbst ein No-Go geworden sind.
Niemanden ausschließen!
Als ich mich vor einiger Zeit auf einer Podiumsdiskussion zu Pornografie über blöde Männer lustig machte, wurde ich vom sehr jungen Publikum scharf zurechtgewiesen. Feminismus heiße, niemanden auszuschließen. Diese Definition ist ungefähr das Gegenteil dessen, was früher als politische Strategie für Frauenräume galt. Die alte feindliche Opposition Mann/Frau ist zu einfach, das ist klar. Aber warum ist Inklusion jetzt zum offenbar unhintergehbaren Gut aufgestiegen?
Die zweite Folge der Verflüssigung könnte sein, dass wir Geschlecht als Thema nicht mehr loswerden. Vielleicht schlägt die queere Guerilla-Taktik ja in der Weise zurück, dass wir nun permanent über geschlechtliche Identität_en nachdenken? Es gibt keine Selbstverständlichkeiten mehr, kein festes Geschlecht, aber auch keinen Bereich ohne Sex, Sexiness, Gender. Das betrifft nicht nur die Theorie-, sondern auch die kapitalistische Warenproduktion, die in den vergangenen Jahrzehnten von der Hautcreme bis zur Babysocke alles nur Erdenkliche durchgesext hat und uns also unablässig mit Zeichen versorgt, um Gender, welches auch immer, auszudrücken.
1998
Syndication Der Redaktion wird angekreidet, sie lasse zu viel linke Wurzeln wuchern und sei hobbyphilosophisch. Eine Dokumentation wird eingeführt und auf authentische Texte gesetzt – aus Nesawissimaja Gaseta, Yediot Achronot, Granma usw. Aus dem Figaro kommt Rapport Mandelkern, der an den 17. Oktober 1961 erinnert, als in Paris über 200 Algerier durch Polizeiterror sterben.
In der langen Zeit, in der sich die Rubriken von „Frauen“ über „Geschlechter“ in „Gender“ wandelten, hat sich viel getan. Die jetzt verhandelten Themen sind weicher, geschmeidiger, vielfältiger und zum Teil auch Mainstream geworden. Das Rad dreht sich, aber es wird im Drehen auch immer wieder neu erfunden, wie die alle fünf Jahre auftauchenden Post- und Neofeminismen. Viel Stoff für die Genderseiten.
„Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“, schrieb Theodor W. Adorno. Weil der Satz so schön ist, möchte man ihn auch für die Geschlechterfrage in Anspruch nehmen. Sie hält sich am Leben, weil das Projekt des Feminismus – Gleichberechtigung – nicht erfüllt wurde, aber auch, weil wir nicht aufhören, immer weiter über Geschlecht_er zu sprechen. Müssen wir das wirklich?
Info
Dieser Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe zum 25. Geburtstag des Freitag
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