Wie komisch es sich anfühlt, dass dieses Geburtsjahr schon so lange zurückliegen soll. 1818! Da waren Goethe und Hegel noch lange nicht tot und der neunjährige Charles Darwin lief allenfalls in kurzen Hosen herum. Dass Karl Marx jünger erscheint, als er ist, liegt unter anderem daran, dass der Marxismus, den wir kennen, erst gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstand und mit Marx selbst gar nicht so viel zu tun hat. Das jedenfalls demonstrieren zwei neue historische Studien, die Marx in gewisser Weise vor seinen Schülern oder auch der politischen Bewegung, die dann seinen Namen trug, retten zu wollen scheinen.
In seiner üppigen Monografie nennt der britische Historiker Gareth Stedman Jones Marx konsequent nur „Karl“, nicht „Marx“, und setzt alles daran, ihn als einen Mann der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zeichnen. Als einen Romantiker also. Jones’ Studie ist keine Biografie im landläufigen Sinn, sondern eine weit ausgreifende politische Ideengeschichte, in die Marx’ biografische Daten eher en passant einfließen. Die Reise beginnt im noch französisch besetzten Rheinland, führt durch die zwischen Fortschritt und Reaktion hin- und hergerissene Zeit von 1830 bis in den Vormärz. Angesichts der Grabenkämpfe der Junghegelianer mag man nostalgisch darauf zurückschauen, wie gefährlich Ideen einmal sein konnten und wie wichtig das Wort „Freiheit“ damals war. Marx, der anfangs Dichter werden wollte, radikalisierte sich in dieser Zeit.
Dass sich die Aufstände von 1848 nicht fortsetzten, wollte der mittlerweile im Londoner Exil lebende Marx lange nicht glauben. Natürlich beschreibt Jones auch die Elendsjahre der Familie Marx in London, die gruseligen Leberleiden und Karbunkel (die Marx mit Alkohol kurierte), Marx’ Korrespondententätigkeit für die New York Daily Tribune, seine oft nicht klar zu definierende „Partei“-Arbeit und das zähe Ringen um das Großprojekt einer „Kritik der politischen Ökonomie“.
Hier liegt der eigentliche neuralgische Punkt: Die Arbeit an den Werken, die heute als Grundrisse, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Das Kapital I – III bekannt sind und zum Teil postum erschienen, schildert Jones als zäh, fast schon traumatisch. Denn Marx sei zunehmend klar geworden, dass er die „Bewegungsgesetze des Kapitals“ nicht ohne Rekurs auf Hegel begründen konnte, sie ließen sich in der Empirie nicht nachweisen. Ein „historischer Materialismus“ oder auch eine „Verfallstheorie“ des Kapitals seien bei Marx so klar gar nicht zu finden. Solche wirkungsmächtigen Theoreme gingen auf Vereindeutigungen unter anderem durch Friedrich Engels zurück, dessen Anti-Dühring eine geradlinigere Version von „Marxismus“ vorführte. Jones legt dezent nahe, dass Marx die Arbeit an Kapital II und III hinauszögerte, dass die Krankheiten, die ihn oft am Schreiben hinderten, zum Teil psychosomatisch bedingt gewesen sein könnten und dass Marx mit Engels nicht in einen deutlicheren inhaltlichen Disput trat, weil er von diesem finanziell abhängig war.
Und dann Darwin. Marx habe zwar die Evolutionstheorie begrüßt, sie entspreche seinem Denken aber weitaus weniger, als es spätere Deutungen insinuieren, schreibt Jones. Prägt der Mensch die Umwelt oder die Umwelt den Menschen? In der technizistischen Sprache des späten 19. Jahrhunderts gingen die romantischen Träume der Revolutionsgeneration von 1848 unter, zu der doch Marx noch gehörte. Er war idealistischer, als man ihn haben wollte. Erstaunlicherweise beschäftigte sich der späte Marx mit archaischen Dorfgemeinschaften, in denen er das Ideal des verwirklichten Gemeineigentums auch ohne proletarische Revolution erkannte. Ein fast heimatkundlicher Marx erscheint da, der aber passte nicht ins Bild für eine Sozialdemokratie, die ein wissenschaftliches Fundament für den Sozialismus/Kommunismus suchte.
Der Fetisch „Wissenschaftlichkeit“ ist auch zentral für Christina Morinas Argumentation. Das Buch Die Erfindung des Marxismus der in Jena lehrenden Historikerinliest sich fast wie eine Fortsetzung der Studie von Jones. Angelegt ist es als „Gruppenbiografie“, parallel werden der Werdegang, die Politisierung und das Engagement von acht Männern und einer Frau beschrieben, darunter Victor Adler, Karl Kautsky, Plechanow, Lenin und natürlich Rosa Luxemburg. Wie ticken Revolutionäre, will Morina wissen, und was machte die Ideen von Marx und Engels so attraktiv, dass eine Generation politischer Aktivisten und Parteigründer sie ab 1880 nach Frankreich, Österreich und Deutschland trug, ab 1890 dann nach Russland und Polen?
Morina rekonstruiert die persönlichen Motive im politischen coming of age, den Zusammenhang „zwischen Weltaneignung und Weltanschauung“. Interessant ist vor allem der Teil des Buches, in dem sie nachverfolgt, wie die Einzelnen auf die Schriften von Marx/Engels stießen und das Gelesene – zum Teil in persönlichem Kontakt mit den Altmeistern – verarbeiteten und weiterentwickelten. Jules Guesde etwa wird als hypernervöser, kränkelnder Ex-Anarchist beschrieben, der zum Agitprop neigte. Er besuchte Marx und Engels 1880 in London, um mit ihnen das Gründungsprogramm für eine Arbeiterpartei in Frankreich zu entwickeln, wo Marx keinen guten Stand hatte, weil er als zu preußisch galt. Für den Russen Peter Struve wiederum, der später zu einem Liberalen wurde, war eher die eingehende intellektuelle Auseinandersetzung mit Marx’ Schriften wesentlich, wie auch für Karl Kautsky.
Arbeiter lasen ihn nicht
Die Lektüre sei für alle so etwas wie ein „Marx-Erlebnis“ gewesen, schreibt Morina, und zwar nicht im Sinne einer religiösen, plötzlichen Konversion, sondern eher als die Verfestigung einer durch Marx vermittelten Weltanschauung. Die vorgestellten Protagonisten verstanden dessen Theorie als Antwort auf die seit 1848 brennende „soziale Frage“. Auf die maßlose Verelendung breiter Massen als Folge der Industrialisierung versuchten sie – und das ist das Wesentliche – eine wissenschaftliche Antwort zu geben.
Die von Morina beschriebenen Aktivisten waren wohl die ersten Revolutionäre der Geschichte, die auf Theorie zurückgriffen. Dabei fungierten sie als Exegeten, Vermittler und Popularisierer. Denn die Arbeiter lasen nicht Marx im Original, sondern Kautskys Karl Marx’ ökonomische Lehren, Plechanows Sozialismus und politischer Kampf oder Lenins Was tun?. Die klare Politisierung der Wissenschaft, diese „Usurpation des Wissenschaftsbegriffes durch die marxistische Gesellschaftsanalyse“ sei aber gar nicht im Sinne des Erfinders gewesen, meint Morina.
Gareth Stedman Jones und Christina Morina liefern viel Stoff, der sich allerdings nicht ganz voraussetzungslos herunterlesen lässt. Morina lässt anspruchsvoll die Fäden von neun Biografien parallel oder auch übereinander laufen, springt aber, immer um Vergleich bemüht, gerade in den Anfangskapiteln zu unruhig zwischen den Protagonisten hin und her.
Jones’ mächtiges Ideen-Werk hat einen anderen Haken: Der Mann weiß schlicht zu viel. Sein Buch ist maßlos überfrachtet, und die Leserin kann sich in dieses Konvolut allenfalls hineinfallen lassen wie in einen wimmelnden Fischteich und versuchen, zwischen Chartisten, Owenisten und der Bewegung der Ikarier nicht ganz unterzugehen.
Kurzum: Auch wenn Morinas Studie in ihrer thesenhaften Beflissenheit anzumerken ist, dass sie ursprünglich eine Habilitationsschrift war, ist sie ein interessanter Rundumschlag zum internationalen Personal der frühen kommunistischen Bewegung. Jones’ dickes Buch ist unlesbar. Macht aber nichts, denn faszinierend bleibt es trotzdem.
Info
Karl Marx. Die Biographie Gareth Stedman Jones Thomas Atzert, Andreas Wirthensohn (Übers.), S. Fischer 2017, 896 S., 32 €
Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte Christina Morina Siedler 2017, 592 S., 25 €
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