Ich kam aus Wolgograd und wollte nach Kalmückien. Vielleicht war ich ein bisschen nervös - Kalmückien, der Name schien vertraut, nur woher? Jedenfalls hatte ich das Gefühl, ans Ende der Welt zu fahren. Hinter Wolgograd öffnete sich das landschaftliche Loch der Steppe, das reizvoll wäre, wollten nicht rostige Fahrzeuge und zerfallende Industrieruinen eine seltsame Obszönität verbreiten. An der Grenze, die Russland von der halbautonomen Republik Kalmückien trennt, lungerten ein paar Soldaten mit mongolischen Gesichtern, zwischen sich einen dampfenden Samowar, die Kalaschnikows lässig über die Schulter geworfen, ohne Interesse an einem klapprigen Toyota mit Wolgograder Kennzeichen, unkontrolliert durften wir passieren.
Ein Mond wie jeder Mond
Die Steppe, die so plötzlich beginnt, als hätte man sie dazu aufgefordert, ist weit, der Himmel - wie es sich gehört - endlos. Stunde um Stunde führt die Straße schnurstracks geradeaus, verschwindet hinter Hügeln, um am Horizont wieder aufzutauchen. Es scheint, als bewegten wir uns nicht vom Fleck, der Blick aus dem Fenster bleibt derselbe, nur heruntergekommene Tankstellen am Wegesrand geben der Fahrt Bewegung. Der Steppenwind fegt durch vom Winter verzweifelte Büsche und fährt mir beim Aussteigen kalt unter die Kleidung.
Irgendwann hockt an der Piste ein Hirte mit verknittertem Gesicht und kaltem Zigarillo, während sein lahmendes Pferd sich vergebens müht, der versprengten Schafherde nachzuhumpeln. "Väterchen", dolmetscht mein russischer Fahrer, "man würde dich gern fotografieren." - "Fotografieren? Nicht mich. Macht ein Foto vom Pferd, dem ist das egal."
Nach 300 Kilometern durch die Unendlichkeit gerät plötzlich wieder Leben in die Steppe. Höfe werden zu kleinen Dörfern, kleine zu großen Ansiedlungen. Hatte ich wirklich Jurten erwartet? Wilde Kamele, kriegerische Reiter? Was zu sehen ist, sind Häuser aus blankem Zement, die Dächer aus Wellblech. Die Steppenstraße zerteilt sich in viele Straßen, links und rechts stehen Appartementblocks, Ladas und schiefhängende Minibusse überholen uns. In der Hauptstadt Elista grinst der Präsident von vielen Postern. Bald finden sich hilfreiche Polizisten, die uns zum einzigen Hotel eskortieren. So stehe ich denn wie die verlorene Heldin eines schrägen Road-Movies vor einem schäbigen Bau, von Hunderten asiatischer Gesichter erstaunt beäugt, vom Steppenwind zerpflückt.
Kirsan Ilumzhinov. Ich habe lange für den Namen geübt, schließlich bin ich gekommen, Kalmückiens Präsidenten zu interviewen. Kirsan Ilumzhinov residiert am Lenin-Platz, der so öde ist wie alle Lenin-Plätze Russlands. Um eine übergroße Statue gruppieren sich die üblichen lieblosen Bauten und Kioske mit Coca-Cola-Werbung. Vis à vis des Lenin-Denkmals aber, in einer geraden Linie, prangt in grellbunten Farben eine Pagode, es lächelt ein kleiner, dicker Buddha unter einem Tempeldach und träumt vor sich hin. Nach den Vorstellungen von Kirsan Ilumzhinov soll Kalmückien demnächst zum wichtigsten buddhistischen Land außerhalb Asiens werden. Der Dalai Lama war auch schon da und hat vor den Toren der Stadt einen lamaistischen Tempel geweiht.
Die Hüter des Regierungsgebäudes, zwei junge Burschen, reißen bei meinem Anblick die Augen auf. Von einem Interviewtermin wissen sie nichts. Nach vielen Telefonaten, in denen sie immer wieder sagen, sie hätten hier eine knittrig aussehende Deutsche mit lausigen Russischkenntnissen, die behaupte, sie sei mit dem Präsidenten verabredet, gelingt es, eine englischsprechende Dame namens Nadja aufzutreiben. Nadja sagt, der Präsident sei wegen dringender Angelegenheiten nicht in Elista, sie wisse aber weder wo er sei, noch wann er zurückkomme. Außerdem wisse sie nicht, wer das wissen könnte. Ich soll am späteren Nachmittag wiederkommen.
Am späteren Nachmittag ist Nadja nach Hause gegangen. Auch sonst, sagen die Jungs vom Empfang, sei niemand mehr da. Ich verlängere meinen Hotelaufenthalt um eine Nacht und gehe spazieren. Vor dem lächelnden Buddha stehen Brautpaare und lassen sich fotografieren. Das bringt Glück. Entgegen allen Hoffnungen - von der kalmückischen Gastfreundschaft hatte ich Sagenhaftes gehört - gibt es keine Einladung zu einer Hochzeitsfeier, dafür aber den Segen von einer alten Bettlerin, der ich ein paar Rubelscheine gebe. Zum Dank erzählt sie Geschichten, von denen kein Wort zu verstehen ist. Plötzlich wirkt Elista schön. In den Nebenstraßen scharren Ziegen in den Gärten, um kleine Holzhäuschen rankt sich welker Wein, hinter großen Holztoren erklingt Musik.
Am Abend beginnt hinter der Stadt die tiefste Dunkelheit. Der Mond am Himmel sieht aus wie jeder Mond, und das scheint irgendwie verwunderlich. Lange folge ich jedem Lichtschein, doch stets ist es nur ein Kiosk oder ein überdachter Spielautomat. Schließlich findet sich ein mickriges Bierzelt gleich neben einem Lädchen mit Amuletten und Bildchen eines vor sich hin dämmernden Dalai Lama. Zu essen gibt es im Zelt getrocknete Fische, die von den Gästen an den umstehenden Tischen beherzt mit den Zähnen auseinander gerissen werden.
Keine Stadt wie jede Stadt
Vor lauter Angst, den Präsidenten zu verpassen, verzichte ich am nächste Tag aufs Frühstück. Noch bevor die Stadt erwacht, wird der Eingang zum Regierungsgebäude belagert. Die Jungs von der Wache grinsen, ob erfreut oder belustigt, bleibt mir verborgen. Nadja ist nicht da. Der Präsident auch nicht. Ich setze mich ungefragt und mit zum Äußersten entschlossener Miene auf das Sofa in der zugigen Eingangshalle und beginne, den durch die zerschlissenen Bezüge quellenden Schaumstoff herauszuzupfen. Dass da eine Irre allen Ernstes auf den Präsidenten wartet, spricht sich schnell herum. Angestellte huschen mit gesenktem Kopf durch die Halle und schielen belustigt herüber.
In der dritten Nacht in Elista habe ich ein Zimmer mit lauwarmem Wasser und einem Fernsehapparat. Kirsan Ilumzhinov war noch nicht zu treffen, dafür aber der Generalsekretär der Ilumzhinov-Partei, den ich Sergej nennen durfte, und der ein Interview für den übernächsten Tag versprach. Außerdem siedelte er mich nach "Chess City" um. Kirsan Ilumzhinov, der auch noch Präsident des Weltschachverbandes ist, hatte "Chess City" 1998 für die Gäste der Schacholympiade bauen lassen. Inzwischen ist die Trabanten-Stadt, die aus zwölf Straßenzügen mit in Wohnungen unterteilten Reihenhäusern und einem Gemeinschaftszentrum besteht, schon wieder ein wenig verfallen. Demnächst allerdings soll hier ein Schachmuseum entstehen, in dem die Geschenke ausgestellt werden, die der kalmückische Präsident von seinen Schachbrüdern aus aller Welt erhält.
Der Versuch, Bewohner für die Reihenhausappartements zu finden, ist offenbar gescheitert, jedenfalls bin ich ziemlich allein. An der Wand meines Appartements hängt ein Teppich, der einem arabischen Scheich gehört haben soll. Er wollte ursprünglich hier einziehen, ließ es dann aber doch. Möglicherweise, weil er - wie auch ich - herausfand, dass Elista zwar Weltschachstadt werden soll, die wenigsten Kalmücken allerdings die Leidenschaft ihres Präsidenten teilen. Ich treffe keinen, der Schach spielt.
Den Abend verbringe ich mit Sergej bei einer kalmückischen Tanzveranstaltung. Anschließend bei Hammelsuppe mit Innereien, Hammelbraten und Buttertee erzählt Sergej traurige Geschichten über die Deportation der Kalmücken und erklärt das kalmückische Steuersystem. Manchmal ist es mühsam, ihn zu verstehen, da die Musik aus dem Lautsprecher ohrenbetäubend bleibt und auf der Tanzfläche zwei betrunkene Frauen kreischen. Zum Abschied küsst mich Sergej auf die Wangen. Zurück in "Chess City" sehe ich Stirb langsam auf russisch.
Elista wird mir mit jedem Tag vertrauter, in den Straßen rufen die Kinder "Deutsche, Deutsche" hinterher. Ich habe Irina kennen gelernt, die das kalmückische Museum leitet und jede Frage zu Geschichte und Kultur beantworten kann. Ich streite mich mit Nyudla, die allein ihren Sohn groß zieht, von einer Karriere in England, Deutschland oder Irland träumt und mein Mitleid mit den Tschetschenen unglaublich dumm findet. Ich habe Kaffee und Filtertüten, Brot und Tütensuppen gekauft, um Nyudla in "Chess City" ein kärgliches Mahl zu bereiten, während sie über die terroristischen Ambitionen Tschetscheniens schimpft.
Lagerfeuer wie Irrlichter
Die Rückkehr des Präsidenten lässt auf sich warten. Sein Pressesprecher will unterdessen wissen, mit welcher Art von Fragen zu rechnen sei. Ich deute ihm an, beispielsweise erfahren zu wollen, was der Präsident zu den Vorwürfen der Wahlmanipulation meint. Und was er unter "Gesetz der Steppe" versteht. Woher der Präsident seinen Reichtum habe. Wie Kalmückien die wirtschaftliche Misere überwinden könne. Ob es am Öl des Kaspischen Meeres beteiligt würde?
Schließlich kommt Kirsan Ilumzhinov doch. Um die Mittagszeit braust er im Chrysler, von Polizeiwagen eskortiert, durch die Hauptstadt. Zur Annnäherung und zum Kennenlernen darf ich in der Präsidenten-Loge des Fußballstadions von Elista dem Spiel zwischen der kalmückischen Mannschaft Uralan und einem Zweitligisten aus Jaroslawl zusehen. Dabei kaue ich wie die anderen Zuschauer Sonnenblumenkerne und spucke die Spelzen auf den Boden. Kirsan Ilumzhinov sitzt eine Reihe weiter vorn, kaut keine Kerne und würdigt mich keines Blickes. Er verschwindet mit seinen bulligen Body-Guards, noch bevor der Schiedsrichter abpfeift. Ich soll ihn nicht mehr wiedersehen.
Der Präsident habe Elista leider schon wieder verlassen, sagt mir Nadja später, viel später an diesem Tag. Übermorgen vielleicht. Darauf kann ich nicht warten, zumal in mir irgendwo die Überzeugung rumort, die Welt will eigentlich gar nicht wissen, wie die Mehrheitsverhältnisse im kalmückischen Parlament zustande kamen und weshalb "Chess City" eine Geisterstadt ist.
Als ich in der Nacht durch die Steppe fahre, fort aus Kalmückien, zwinkern die Lagerfeuer ferner Hirten wie Irrlichter. Draußen pfeift der Steppenwind und klingt, als lache er sich eins in Fäustchen.
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