Wer nach Lübeck reist, reist stets in den Schatten von St. Marien. Von den weithin sichtbaren sieben Türmen der Stadt sind die Zwillingsspitzen der im spätgotischen Stil errichteten Kathedrale die höchsten. Sie ragen 125 Meter in den Himmel und halten in den sie umgebenden Straßen die Strahlen der Sonne fern genug, um die einstige Hansestadt in jene beherrscht ernste Aura zu tauchen, mit der sich ein distinguiert stolzes Bürgertum noch immer gern umgibt. Wie kein anderes Gebäude ist St. Marien in der Lübecker Literatur vertreten, als Symbol für Verlust oder Wiedergewinn verlorener Kindertage, für Heimat und Geborgenheit, Heimweh und Melancholie.
Willy Brandt, der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg, der Schauspieler Günther Lüders sind nur einige, die sich, fern der Heimatstadt, in Rede oder Schrift der kühlen Mauern und grünen Spitzen erinnert haben. Die Entstehung der Kirche wie ihre Größe bürgen für den Stolz der Hanse, für ihren Einfluss auf die Kultur der Stadt und den Geist des Bürgertums. An St. Marien hängen - da viel von diesem Geist entschwunden scheint - erhabenste Erinnerungen.
Oft genug scheiden sich daran die Geister: Den einen bezeugen die Kirchtürme die Bigotterie eines so verspießerten wie eingebildeten Bürgertums, den anderen bleiben sie im Herzen, selbst wenn Stadt und Land längst in die Ferne entschwunden sind. Schließlich strebt kein anderes Bauwerk so hochmütig empor und zwingt dem Betrachter so schwindelerregende Perspektiven auf wie St. Marien. Selbst die Gleichgültigsten werden, wenn am Weihnachtsabend Kantatenjubel durch ihre Wände in die stillen Straßen dringt, von der sehnsuchtsvollen Ahnung einer tiefen Ruhe gestreift, die der salbungsvolle Stadtspruch über den plumpen Beinen des Holstentors "Concordia Domi, Foris Pax" - "Eintracht im Hause, Frieden vor den Toren" - nicht hervorrufen kann.
Wie die Glocken einst gefallen, so liegen sie noch immer
St. Marien über den Blick der Reiseführer zu sehen, ist das Eine. Um ihre Mauern geschlichen, sie im Wechsel der Jahreszeiten gesehen, gar in ihrer Nachbarschaft seine Kindertage verbracht zu haben, das Andere. Um ihre Schönheit und Unnahbarkeit zu begreifen, muss man den Wind hören, der zwischen ihren Türmen und Bögen hindurch pfeift und in den Ritzen des Mauerwerks grelle Flötentöne anschlägt. Man muss dem Kirchenschiff zur Seite stehen und durch die Mengstraße an alten Giebelhäusern vorbei zum Hafen hinunter schauen und wird wissen, wie Steine Geschichten erzählen. Man muss still die Glocken beweinen, die 1942 in der Bombennacht zu Palmsonntag vom Turm stürzten, das Fundament zerrissen, in die Erde drückten und selbst zersprangen. Wie sie gefallen, so liegen sie noch immer, ein Bild des Jammers, an dem sich Fassungslosigkeit entzündet.
Ein honoriger Lübecker Bürger, so heißt es bis heute, muss von seinem Fenster aus möglichst einen der Lübecker Türme, am besten aber die beiden von St. Marien sehen. Schon deshalb ist es recht, Thomas Mann einen respektablen Lübecker zu nennen: "Von der Kanzel der Marienkirche herab, in deren Schatten das Haus meiner Großeltern stand, deren Glockenspiel in meine Kindheit hinein klang, und in der ich konfirmiert wurde, ist allezeit viel die Rede gewesen, von Tod und Auferstehung", schrieb er zur 700-Jahr-Feier der Kirche im September 1951. Mehr noch als seinen Roman Die Buddenbrooks haben die Lübecker ihm übel genommen, dass er in einer Rundfunkansprache während des Zweiten Weltkrieges die Bomben entschuldigte:
"... lieb ist es mir nicht, zu denken, daß die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffer-Gesellschaft sollten Schaden gelitten haben. Aber ich denke an Coventry - und ich habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß." Um so mehr spendete Thomas Mann später für den Wiederaufbau seiner Geburtsstadt. "Heute trägt noch der Ärmste sein Scherflein bei, damit es aus dem traurigen Zustande ... langsam zu alter Würde und Schönheit wieder erstehe."
Das Mannsche Geburtshaus Breite Straße/ Ecke Beckergrube existiert nicht mehr. St. Mariens Schatten fällt nur noch auf die Residenz der Großmutter, der Konsulin Elisabeth Mann, dem geneigten Leser als Toni wohlbekannt. Das Haus liegt in der Mengstraße 4 just vis-à-vis der Kirche. Dem Pilgertum der Mann-Verehrer tut das keinen Abbruch. Selbst Gottfried Benn notierte bei einem Lübeck-Besuch: "Stand nicht ohne Rührung (und mehr) vor dem Haus der Manns".
Fast hätten die Lübecker dank St. Marien schon lange vor der Mann-Zeit andere große Männer zu Söhnen der Stadt ernennen dürfen - Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach. Sie kamen Anfang des 18. Jahrhunderts als Schüler des damaligen St. Marien-Organisten in die Stadt, der kein Geringerer als Dietrich Buxtehude war. Die Stadt hätte eine geistige Auffrischung vertragen, das kaufmännische Bürgertum war zu sehr mit Geschäften beschäftigt, als sich den Schönen Künsten widmen zu mögen. Doch weder Bach noch Händel wollten die Nachfolge des damals schon recht betagten Buxtehude übernehmen, hatte die Sache doch einen Haken: Eine Vereinbarung, nach der nur Organist werden konnte, wer die Tochter des Vorgängers heiratete. Die von Dietrich Buxtehude war mehr als zehn Jahre älter als die beiden Aspiranten, die sich deshalb entschieden, einem anderen Ort mit ihrem Genie zu dienen.
Die hohen Türme haben mich gegrüßt, die über meinen Kinderträumen ragten
Wenigstens hatte Lübeck seinen Emmanuel Geibel (1815-1884). Der hier geborene Dichter kehrte nach langer Abwesenheit in seiner Lebensmitte kränkelnd in die Geburtsstadt zurück und lebte von einer Gnadenpension, die ihm der Kaiser für seine Verdienste zahlte. Die Lübecker waren von dieser glücklichen Fügung begeistert. Mit seinen Gedichten rührte Geibel das empfindsame Herz manch kunstbeflissener Bürgerstochter. Dass er stets leidend war, erhöhte seinen Mythos bei den Frauen noch.
"Geibel ist krank, das Wichtigste ist ihm sein Dreck ... von einem guten Schiß kehrt er zurück, wie von einem guten Werk", stellte Theodor Fontane 1846 nach einem Treffen fest. Ob Geibel von seinem Zimmerfenster aus auf St. Marien sah, weiß man nicht, welchen Eindruck die Kathedrale auf ihn machte, hat er indes dichterisch festgehalten: "Und über die Giebel und Wälle/und über den Fluß dahin/wogt festlich das Geläute/der Glocken zu St. Marien."
Als Geibel starb, gab es ein Ehrenbegräbnis, und durch die Stadt lief die Frage, wer denn künftig die Stelle des Verschiedenen einnehmen solle. Zunächst fand sich keiner. Theodor Storm, der das berühmte Katharineum besucht hatte, dessen Schüler auch Geibel war und später die Brüder Mann sowie Erich Mühsam werden sollten, lebte bereits in Husum. In seinen Erinnerungen war St. Marien stets präsent. Die Legende, der Teufel habe beim Bau der Kathedrale mit Hand angelegt, in der Erwartung, es werde ein Wirtshaus gebaut, animierte Storm zu einem Gedicht, dem er die Überschrift gab: "Der Bau der Marienkirche zu Lübeck".
Viele kamen, priesen St. Marien und zogen weiter. 1814 weilte Matthias Claudius in der Stadt und vermerkte, dass in allen Lübecker Gesellschaften "ohne Ausnahme Strümpfe, Handschuhe und Socken gestrickt werden". Aus Verzweiflung darüber scheint er die Kathedrale mitten in der Nacht aufgesucht zu haben: "Es war um Mitternacht, die Säulen zu Sankte Marien/wuchteten empor in steinerner Pracht/Ich lag auf den Knien".
Auch der dänische Dichter Hans-Christian Andersen fand auf einer Reise Gefallen an der Stadt und schrieb: "Ich ging zum Organisten und mit ihm in die St. Marien-Kirche. Sah den Totentanz, der Tod sieht sehr lustig aus." Die Lübecker dürften über diese Sätze wenig begeistert gewesen sein, schließlich galt der von Bernt Notke geschaffene Gemäldereigen als größtes Kunstwerk der Stadt und hatte ihr zu einigem Ruhm in der Hanse verholfen.
"Die hohen Türme haben mich gegrüßt,/ die über meinen Kinderträumen ragten/und ihre unbewegten Mienen fragten/wie ich des Lebens wachen Ernst verbüßt", dichtete Erich Mühsam, der wie Thomas Mann in Lübeck lange nicht geachtet war, im Erinnern an seine Kindheit. Ähnlich wie die Manns litt er am Unverstand seiner Lehrer, und die fürchteten seine rebellischen Eskapaden. Mühsam verachtete Spießigkeit und Muff der Stadt, kam in München zu Ruhm und wurde doch das Heimweh nicht los: "Fort von den gestorbnen Steinen!/Liebe! schreit aus meinen Süchten./Dir am Herzen will ich weinen/und zu dir die Heimat flüchten."
In München traf Mühsam eine alte Bekannte aus Lübecker Tagen wieder: Franziska zu Reventlow. Die hatte zwar mehr Liebhaber, als sie Gedichte schrieb, doch die Stadt im fernen Norden war ihr eines wert: "Die Uhr vom Turm mit schwerem Klange, sechs Schläge langsam nieder dröhnt ...". Die Mühsamsche Anarchie und die Reventlowsche Nymphomanie waren zuviel für die Lübecker. In einem Brief an den Dichter amüsierte sich die Gräfin über einen ihr aus der Heimat zugetragenen Spruch. "Daß die alle aus Lübeck sein müssen. Was sollen bloß die Leute im Reich von uns denken ..."
Die heitere Seite des Lübschen beweist ein Stück Lyrik, dass sich im Inneren der Kirche findet. Einem wohl nicht gerade gottesfürchtigen Bürger gab man folgende Grabinschrift: Hier leit de Borgemeister Kerkering,/de so scheep up den Vöten ging/O Herr! Mak öm de Schinken liek, un hölp öm in dyn Hemelriek!/ u nimmst dy ja de Schape an./Lat doch den Buck ok mede gan.
Und im Ratskeller gegenüber, den man der Sage nach baute, um den erbosten Teufel zu besänftigen, findet sich ein Spruch, der auf die alte Sitte hinweist, dort Braut und Bräutigam zusammenzuführen: Mannich Man lude synghet,/Wen man de Brudt em bringhet/ Wiste he, wat man em brochte,/Dat he veel leewer weenen mochte."
Literaturhinweis: Eine Stadt wie Marzipan. Das große Lübeck-Lesebuch, Hinstorff Verlag Rostock, 1993 / Hans Wißkirch, Spaziergänge durch das Lübeck von Heinrich und Thomas Mann, Arche Verlag 1996
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