Das ganze Land ein Skelett

Sterben in Hütten - Taubheit in Palästen Im afrikanischen Königreich Swaziland ist vermutlich die Hälfte der Bevölkerung mit HIV infiziert

Alle wissen, es ist ein sterbendes Land. Alle müssten es wissen. Eigentlich. Vor dem inneren Auge müssten Bilder von entvölkerten Landstrichen, leeren Dörfern, zerfallenden Hütten stehen. Von Kindern, die verlassen und einsam umherstreichen. Eigentlich müsste ein Aufschrei der Angst durch Swaziland gehen. Das Land mit der welthöchsten HIV-Rate! Zähneklapperndes Entsetzen angesichts der Zahlen, die vorsichtig, aber stetig nach oben korrigiert werden. Von null Prozent 1990 auf inzwischen amtliche 30 Prozent, wahrscheinlich sogar 40, vielleicht noch mehr. Das hieße jeder Zweite - das hieße, vielleicht nicht der Chef, aber sein Lehrjunge, nicht der Vater, aber die Mutter, nicht das jüngste Kind, aber das älteste. Ein halbes Land. Ganz Swaziland ein Skelett?

Eigentlich braucht es keinen Aufschrei. Die Zahlen sprechen für sich. UNAids, die Hilfsorganisation der UNO, hat ihre Statistiken, und die fallen alle höher aus als die der Regierung. Der Monarch von Swaziland weiß es auch, seit die internationale Gemeinschaft von ihm Verantwortung erwartet. Die 50 Prozent aber werden nur von Mund zu Mund weitergetragen, im Flüsterton. Weil sie zu ungeheuerlich sind, weil sie dem Elend eine Dimension geben, die niemand wahrhaben will. In Swaziland, in diesem stillen, kleinen Königreich mit einer Million Einwohnern und einer Fläche von gerade einmal 17.000 Quadratkilometern.

Die meisten Swazis leben von der Landwirtschaft, von der Hand in den Mund. Von wenig genug. Ein Land ohne nennenswerte Rohstoffe und daher auch nicht von Interesse für den Rest der Welt. Keine Kriege, keine ethnischen Konflikte. Alle Swazis sind vom selben Stamm, sind Nachkommen jener Gruppe, die einst aus Mosambik einwanderte. Eine Sprache, eine Weltanschauung. Brüder und Schwestern, in Polygamie miteinander verbunden, verschwägert. Die Familienstruktur ist stark. Der Glaube an die Monarchie durch keine Skandale, keine Volksempörung geschwächt. Jede Landschaft eine Kulisse für romantische Afrika-Filme.

Kann denn der König da nachstehen?

Eine alte Frau sei vergewaltigt und getötet worden, steht in der Hauptstadt Mbabane in der Zeitung. Man habe ihr die Brüste und die inneren Schamlippen abgeschnitten. "Es sind bald Wahlen", raunen die Mbabaner dazu. Man muss viel herumfragen, um zu erfahren, dass das Trocknen und Reiben intimster Teile Macht verleiht. Es bleibt ein Rätsel, ob man diese Teile essen, wie Medizin schlucken oder auftragen muss. Der Mörder wird nicht gefunden, deshalb erfährt man nicht, ob vielleicht ein Minister dieses Verbrechens schuldig war. Oder wer sonst.

Im Nachtclub If Not, wo die "exotische Tänzerin Jodie" nach Mitternacht den Männern einheizt, reiben sich die Damen des Vorprogramms an Eisenstangen und präsentieren ihre Nacktheit akrobatisch. Jede Show dauert 15 Minuten, weitere Dienste am Kunden nicht ausgeschlossen. Dem Widerwillen am Klischee zum Trotz sind alle männlichen Gäste weiß. Im Morgengrauen sitzen müde Tänzerinnen auf dem Schoß betrunkener Männer, was drinnen nicht zu Ende verhandelt wurde, findet draußen auf dem Parkplatz seine Fortsetzung.

Fast nichts weist außerhalb des Zahlengerüsts der UNO und der Gesundheitsbehörde von Swaziland auf die Katastrophe hin. Es gibt keine Gesetze, die das Sterben eingrenzen könnten. Keine Verpflichtungen, Bluttests zu machen, nicht einmal für heiratswillige Paare. Nur in den Hospitälern werden schwangere Frauen auf HIV untersucht. Aber wie viele kommen schon dorthin? Es gibt keine mahnenden Ansprachen des Königs Mswati III. an sein Volk, kein beherztes Aufstehen der Regierung, es gibt ja nicht einmal eine Regierung, nur einen Haufen königstreuer Marionetten. Seit die Hilfsorganisationen mit ihren Anti-Aids-Plakaten im Land sind, wissen zwar viele, Sex ohne Kondome ist nicht gut. Die öffentlich aufgestellten Boxen mit Kondomen aber sind überall leer. In jedem Dorf kann man in winzigen Läden zwar Zigaretten kaufen und manchmal auch noch Kekse, aber keine Kondome, deren Herstellungsdatum weniger als fünf Jahre zurückliegt und die nicht längst von der Hitze in krümelige Masse verwandelt worden sind.

Also keine Kondome. Jedenfalls nicht außerhalb von Mbabane, der Hauptstadt. Dann wenigstens Treue. Steht jemand auf und sagt, dieser Sex mit vielen, im Gebüsch, am Rande des Weges, diese Hingabe an die Hingabe, die ist tödlich? Nicht mehr nur "vielleicht" tödlich, sondern "höchstwahrscheinlich" tödlich und - wenn es so weiter geht - in einigen Jahren "ganz bestimmt" tödlich. Niemand! Stattdessen schafft sich der König elf Frauen an, zwei weitere sind in Wartestellung.

Das ist doch noch gar nichts, nein, Ma´am, sagen die Swazis - die Frauen leicht angewidert, aber die Männer mit diesem anerkennenden Lächeln: Sein Vater hatte 69! Kann denn der junge König da nachstehen? Was kann ihm denn schon passieren, mit diesen jungen Dingern, die er manchmal direkt von der Schulbank wegholt, deren Eltern ihm schwören, dass ihre Töchter noch Jungfrau sind. Aids für den König. Unmöglich. Nur für das Volk, Ma´am, aber was ist schon das Volk?

Können Sie meine Kleinen nehmen?

Bethusile Masuko stirbt seit sechs Monaten. Lange kann es nicht mehr dauern, bis die Familie ihr ein Grab unter den Palmbäumen oder zwischen den abgerupften Maisstauden schaufelt. Bethusile ist so dünn, ihr Umriss zeichnet sich unter der Decke nicht mehr ab. Bis vor einigen Wochen hat sie im Bett gelegen, doch nun, da sie Kot und Urin nicht mehr halten kann, da ihr Körper schon nach Verwesung riecht und ihr Mund von innen so wund ist, dass sie keine Worte mehr hineinlassen mag, hat man sie auf eine dünne Matte auf dem Boden gebettet. Im Bett wollen auch noch andere schlafen.

Aids kills! Auch in Swaziland schreit diese Botschaft von den Plakaten der Hilfsorganisationen. Nicht von vielen, längst nicht so vielen wie in Südafrika oder Uganda. Gemessen an der Zahl der Infizierten dort fallen selbst 500.000 infizierte Swazis nicht ins Gewicht und also auch nicht ins Licht der Öffentlichkeit. 42 Millionen Menschen sind weltweit mit Aids infiziert, davon 28, 5 Million südlich der Sahara. Täglich infizieren sich 14.000 weitere.

Am Rande der Städte gibt es eine Handvoll Einrichtungen für Aidspatienten im letzten Stadium. Eines ist das Hope House in Manzini. Auch dort, obwohl von der Caritas unterstützt, reicht das Geld gerade einmal für die nötigste Versorgung, das heißt: für Windeln, den Wechsel der Bettwäsche, sterile Handschuhe für die Pfleger. Die Betreuung der Kranken übernehmen die Angehörigen - sofern sie sich um die Sterbenden kümmern, was nicht immer der Fall ist. Von einem Haus der Hoffnung keine Spur.

Thulile Rudd ist geduldet im Hope House. Dort stirbt gerade ihre Mutter, und die 29-Jährige darf bis zu deren Tod mit ihren zwei Kindern auch dort leben. Thulile ist ebenfalls infiziert, auch ihr fünfjähriger Sohn Joachim ist es. Nur Zurika, die kleine Tochter, scheint gesund zu sein. Weil Thuliles Vater offenbar ein Weißer war, dessen Identität die Mutter nicht einmal auf dem Sterbebett preisgeben will, war ihr Leben innerhalb der schwarzen Familie nicht einfach. Dass sie, ihre Mutter und ihr Sohn HIV-infiziert wurden, schien dem Rest der Familie wohl als gerechte Strafe. Jedenfalls setzten sie Mutter, Tochter und Enkel ohne einen Pfennig auf die Straße. Geschichten, wie man sie oft hört in Swaziland.

Thulile aber, klein, bleich und aidsgezeichnet, wie sie ist, will ihre Kinder nicht dem Schicksal überlassen. "Können Sie meine Kleinen nehmen?" Sie hat nicht gezählt, wie vielen Menschen sie die Frage schon gestellt hat. Den Schwestern im Hospital, den Nachbarn, Wildfremden auf der Straße. Thulile erwartet nicht, dass Joachim und Zurika Liebe erfahren, nur weiter leben sollen sie. Joachim mit Medikamenten, die verhindern, dass er bald stirbt, und Zurika so behütet, dass sie nicht, wie es ihr sonst bevorsteht, schon als Kind in der Prostitution landet.

"Nur eine gesellschaftliche Transformation kann die Bevölkerung von Swaziland retten", glaubt Gcebile Ndlovu von der UN-Hilfsorganisation. Wer und was diese Veränderung herbeiführen sollte, weiß sie auch nicht. Die Aufklärungskampagne mit großen Postern, die Verteilung von Pamphleten, die Sexualerziehung in Schulen - das alles zeigt weniger Erfolg, als angesichts der rasanten Verbreitung des Virus erforderlich wäre.

"Aids. Aids kills!" skandieren die Schüler der Duze High School im Süden das Landes. Der Sprechgesang ist das Ende eines kleinen Theaterstücks, in dem ein kranker Mann von den Ärzten erfährt, er sei HIV-positiv. Ob sie die Botschaft verstanden hätten, will der Schulleiter anschließend wissen, und die Kinder bejahen im Chor.

Nur Sabelo Future, ein 14-jähriger Schlacks, schaut skeptisch. Abseits der Aufsicht seiner Lehrer referiert er über Gruppendruck und Moral der jungen Männer. Es ginge ja nicht nur um Bildung und Verfügbarkeit der Kondome, sagt er altklug. Es ginge um Achtung vor den Frauen, um Liebe. Erst wenn die Männer ihre Frauen schützen, statt sie nur sexuell gebrauchen zu wollen, hätte die ganze Aufklärung über Aids einen Sinn. Drei seiner Tanten seien an Aids gestorben. "Meine Eltern haben sich geschämt und so getan, als seien die Tanten nicht krank. Ich habe ihnen gesagt, das ist Aids, und Aids ist tödlich. Sie haben geantwortet, ich solle meinen Mund halten."


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