Ein Duft nach gerupfter Seele

Georgien Über Viktor - den Magier, den Verführer, den Sänger und den tapferen Stolz auf die Vergangenheit

Viktor tanzt in einem schäbigen Zimmer ohne Sonnenlicht. Mit dem Geruch von Tomaten in Essig und billigem Wodka in der Luft. Das Radio ist längst dahin, aber im Fernsehen gibt es einen Musikkanal. Doch diese Musik kommt aus einer Zeit, die nicht mehr Viktors ist. Also singt er, singt mit hoher Stimme ein Klagelied vom jungen Mann, der zurück kam in die Heimat und dort keinen mehr fand.

Verloren hängt sein magerer Körper in der alten Smokingjacke, die Arme schwanken wie brüchige Halme über seinem Kopf. Am Ende dieser Halme hängen Hände, die sind groß wie Schaufeln und so knochig, als habe der Tod sie übergezogen. Aber was ist der Tod schon gegen Viktor, den Magier, den Verführer der Frauen von Tiflis und sonst wo.

In Wahrheit halten Viktors Hände eine Welt - sie halten das Zimmer mit den faden Möbeln und dem Duft nach gerupfter Seele. Sie halten die zu langen Ärmel des Anzugs. Sie halten Irakli, den Müden, der in besseren Tagen Archäologe am Nationalmuseum war und von den Gräbern der Pharaonen träumt. Jetzt ist er arbeitslos und schleicht nur abends manchmal zurück in sein Museum.

Viktors Hände halten Otis, der außerhalb der Stadt einen Kleingarten hat und den Wind der kaukasischen Berge in die muffige Wohnung trägt. Der mit Kartoffeln und Weintrauben Viktors Hunger stillt. Sie halten die Ecken eines winkelzügigen Lebens, pressen sie zu einem Raum zusammen mit Küchentisch und Wodkaflaschen, durch die das Elend Georgiens fließt.

Viktors Hände halten jeden, der durch seine Tür am Tschawtschawadse-Prospekt in Tiflis tritt. Sie packen des anderen Schultern, schieben ihn auf einen Stuhl. Der Tag wird zur Nacht und die Nacht zum Tag, aber die Schaufelhände sind noch immer da, bitten, geben. Trink doch. Iss doch. Bleib doch.

Das Glück ist ein verschlossener Raum

Der Gast im Haus ist eine Ehre für den Georgier. Da wird nichts gehütet, der Tisch muss voll sein, die Gläser überlaufen. Bringt Licht und Wärme und Musik für den Gast! Hebt das Erwachen für morgen auf, den schalen Geschmack nach dem Rausch, den abgegessenen Tisch, die Stromrechnung, die niemand bezahlt. Und auch die Morgenzeitung, in der steht, wer die Nacht wieder nicht überlebt hat in Tiflis. Wer ausgeraubt und hinterrücks ermordet wurde. Lasst uns später um die Toten trauern. Um jene, die noch immer für Abchasien kämpfen und um jene, die im Pankisi-Tal Opfer der russischen Propaganda werden. Morgen früh, wenn die alten Männer kommen, die für ein paar Lari die Straße fegen, wenn sich Nieselregen über Tiflis legt und die Mauern der Häuser nach Moder und altem Staub riechen, wollen wir fragen, ob sich das Leben, dieses Leben, noch lohnt. Dann erst wollen wir das kaukasische Haus zu Grabe tragen, heute aber trink: Auf die Tränen, die wir im Rausch vergießen.

Georgische Freundschaft ist voller Poesie. Selbst in kleinster Runde wird ein Tamada - ein Trinkspruch-Vortragender - bestimmt. Niemand hebt sein Glas, ohne nicht die tiefen Werte des Lebens zu preisen. Wie glänzende Kulissen oder wie Schutzengel werden blumige Worte um die Tische gelegt. Die biegen sich schon lange nicht mehr unter der Last der Schüsseln. Trotzdem wird das Letzte aus den Schränken gekramt, laufen die Gastgeber los, um beim Nachbarn, beim Freund Wodka aufzutreiben, Käse, Kekse, Obst. Sie leben als Flüchtlinge in engen Zimmern, sie hausen in feuchten Kellerwohnungen, sie schlafen auf der Straße, den Gast aber lassen sie nicht ohne Gaben. Wer nichts hat, leiht sich Geld, um ins Restaurant zu laden. Eine Bettlerin, mit einer lächerlichen Summe beschenkt, zieht aus der Tasche eine winzige Stoffpuppe als Gegengabe.

Nie ist etwas gut genug, immer gibt es Erzählungen von anderen Zeiten, in denen es auch dem Gast besser ging. Das Glück ist stets ein verschlossener Raum, zu dem es keinen Schlüssel mehr gibt.

Georgier leben im Gestern und glauben nicht an das Morgen - solche Sätze hört man oft. Auch Viktor gehen sie leicht über die Lippen. Du hast recht, wie armselig in diesem Zimmer zu tanzen. Beim nächsten Mal stehe ich am Flughafen, mit Blumen und dem roten Schlips. Beim nächsten Mal gehen wir in eine Bar und tanzen, bis die Stühle fallen und die Tische brechen. Aber heute ist meine Stimme ein alter müder Vogel. Verzeih, dass ich Dir nicht mehr geben kann, nur Tomaten und den Käse und das Brot. Iss nur, und du wirst schön sein, wenn du an meinem Grabe stehst?

Was ist mit dem Goldenen Vlies?

Keine Stadt hat so viele Zeitungen wie Tiflis, jeden Tag aufgeblasene Schlagzeilen, und man runzelt die Stirn: »Ziehen die Russen neue Militäreinheiten an den Grenzen zusammen? Werden sie aus dem Pankisi-Tal ein neues Tschetschenien machen? Kurzerhand jeden zum Terroristen erklären? Wird es in Tiflis wieder Attentate geben? Was wird man im Westen von uns denken?«

Betont geht man seinen ruhigen Gang und erzählt sich Witze: Über Präsident Schewardnadse und seinen korrupten Clan, man lästert über die Deutschen, die glaubten, Schewardnadse hätte ihnen umsonst zur Einheit verholfen. Aber der Alltag ist einnehmend genug, für Angst vor Terrorismus bleibt wenig Zeit. Und wenn die Angst doch kommt, wird sie höchstens zum Gejammer über alle Widrigkeiten. Das Brot wird wieder teurer im Mai, die Bars schließen früher. Die Stromversorgung, die seit Jahren nicht funktioniert. Vorerst jedoch ist der Winter vorbei, die Mäntel und Decken, mit denen man in die Oper oder ins Theater ging, sind verstaut. Die Bescheidenheit ist eine Tugend, man braucht keine Abendgarderobe, um Ibsen zu sehen oder Strindberg oder Tschechow. Man braucht keine Diskotheken, um zu tanzen, es reicht ein vermoderter Keller.

Natürlich heißt das nicht, die Bescheidenheit sei gewählt - der wirtschaftliche Niedergang des Landes hat sie dem georgischen Stolz wie ein Sack übergestülpt. Wer kann, der geht lieber. Eine Million Georgier studieren im Ausland, die meisten davon in Deutschland. Die Sehnsucht nach dem Westen wird trotzig verteidigt als berechtigter Anspruch. Sind wir nicht auch Europa wie ihr? Nur dank einer historischen Laune, die uns muslimische Nachbarn gab, von euch getrennt? Was ist mit der Kolchis, dem Goldenen Vlies? Prometheus am Kasbek, in Ketten gefesselt? König David und Königin Tamara? Man bemüht gern die Dichter, die Georgiens Schönheit priesen: Ossip Mandelstam, Michael Lermontow, Alexander Puschkin.

Vor dem tapferen Stolz auf die Vergangenheit wird die Wirklichkeit doppelt unerträglich. In Tiflis verfallen die Häuser, unter den Brücken sitzen die Bettler, auf jeden dritten Bewohner kommt ein Flüchtling aus Abchasien. Wer eine Arbeit sucht, muss dafür zahlen - auf dem freien Markt jedenfalls sind nur wenige Jobs verfügbar. Die Fetische des Kapitalismus - Mode, Kosmetik, High-Tech-Elektronik - sind den wenigen zugänglich, die nicht selten durch die Krise reich wurden.

Früher, erzählt Essma Kundschuria, Herausgeberin des ersten georgischen Männermagazins Pirveli, hätten die Frauen von Tiflis Pariser Mode getragen. »Heute greifen sie zu Second-Hand-Ware, die jemand aus dem Westen bringt und auf dem Markt verkauft.« Erbittert registrieren die Georgier, dass jener Westen, nach dem sie soviel Sehnsucht haben, wenig Notiz von ihnen nimmt und schnell wird aus dem Minderwertigkeitsgefühl der Vorwurf westlicher Arroganz. Dass es in Tiflis fast so viele Hilfsorganisationen gibt wie in Afrika, beschämt, dass deren Mitarbeiter im teuren Viertel Vake residieren, erbittert, und dass alle Mühen der UNO am Dilemma Georgiens nichts ändern können, ruft Wut hervor. »Nicht United Nations Organisation, sondern United Nations Establishment sollte es heißen«, spottet Essma Kundschuria.

Im Winter ließ er sich von Nadja wärmen

Nachts ist Tiflis dunkel. In den kleinen Straßen stolpert man über grobe Pflastersteine und verrenkt sich die Knöchel in Schlaglöchern. Am Tschawtschawadse 2, einem Mietsblock aus Graubeton, gibt es im Treppenhaus kein Licht. Nutzlose Kabel hängen herum. Vergitterte Fenster im Erdgeschoss, die Türen aus Eisen. Halb verhungerte Katzen kreischen im Hof. Wer ein Auto besitzt, hat es in käfigähnliche Verschläge eingeschlossen.

Außer Otis und Irakli wohnen in Viktors Block noch zwei Familien, ein Verrückter, drei Säufer, eine Frau mit Hund und Marina, deren Tochter in New York lebt und Modedesignerin ist. Wenn sie kann, vermietet Marina ihre Wohnung und zieht zu ihrer Mutter an den Rand von Tiflis. Dort schläft sie auf einem schmalen Feldbett, während andere unter ihrem sorgsam geputzten Kronleuchter sitzen, die verstimmten Klaviertasten anschlagen, die Familienbilder beschauen, und die Spitzendecke morgens über das Doppelbett ziehen. Manchmal schleicht Marina wie ein Dieb zurück, tauscht die Kleider gegen andere aus ihrem Schrank, füllt die Zuckerdose auf, stellt frisches Brot hin, schließt den Klavierdeckel. Irgendwann werden die Dollars reichen, irgendwann wird sie ihre Tochter in New York besuchen.

Viktor hält nichts von Amerika. Nur Russland, »diese Hure, diese Schlampe« liebt er und hasst er. Und er liebt doch, weil er es kennt. Als Eisenbahningenieur reiste er bis nach Sibirien. Frauen an jeder Station. Weiterziehen, nie verweilen. Rote, Blonde, Schwarze hielt er mit seinen riesigen Händen für ein paar Nächte. So konnte Viktor das Erwachsenwerden meiden, blieb ein Kind im Körper eines kaukasischen Machos.

Im Winter ließ er sich von Nadja wärmen, die einmal in der Woche zum Saubermachen kam und die blutjunge Tochter eines Freundes war, der Viktor einen Gefallen schuldete. Also putzte Nadja die Wohnung. Sie spülte die Tassen, rauchte Viktors Zigaretten, kochte Tee und legte ihre Brüste beim Einschenken an Viktors Kopf. Dann verschwand sie. Auf Nimmerwiedersehen. Viktor spielt Otis und Irakli eine hysterisch schreiende Frau vor. Er habe ihr nur leicht auf den Hintern geklopft - sie nahm es als Schlagen und rannte davon.

Er dreht den Gasherd an. Im Licht der Kerze tanzen die Flammen wie wilde Elfen. Otis holt aus seiner Tüte eine Flasche besten georgischen Rotwein. Wasch die Gläser, sagt Viktor, den guten Wein, den wollen wir aus gewaschenen Gläsern trinken. Und dann erzählt er die alten Geschichten: Von Sibirien und dem Schwarzen Meer, den prächtigen Hotels, die heute verloren sind. Von seiner Kindheit in Batumi, in dessen Kurbädern niemand mehr kurt. Verzeih, sagt er, dass wir nicht nach Batumi fahren. Wenn du wieder kommst, dann bestimmt.

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