Nach der großen Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa im Oktober 2013 gab es kurzzeitig eine breite gesellschaftliche Diskussion über die europäische Flüchtlingspolitik. Doch die Lebensdauer medialer Debatten ist kurz – längst ist das Thema wieder in den Hintergrund getreten. Eine dreitägige Veranstaltung des Berliner Gorki-Theaters und der Heinrich-Böll-Stiftung mit dem Titel „Berlin calling Lampedusa“ versucht, den Blick wieder auf den Zustand der europäischen Asylpolitik zu lenken.
Am Donnerstagabend begann die Veranstaltung mit einem Theaterstück, einem Dokumentarfilm und anschließender Diskussion im Studio ᴙ. Das Theaterstück Das Geisterschiff von Maxi Obexer befasst sich mit einer Tragödie, die sich 1996 vor Sizilien ereignete: 283 Flüchtlinge kamen ums Leben, die bis dahin größte Katastrophe im Mittelmeer. Besonders hohe Wogen schlug die Empörung über diesen Fall auch deshalb, weil er systematisch verschwiegen und erst 2002 durch einen Journalisten öffentlich gemacht wurde. Keine Bergung des Wracks, keine Totenscheine, keine Beerdigung. Schließlich fand ein Fischer – neben Knochen und Kleidungsstücken – eine eingeschweißte Identitätskarte in seinem Netz und übergab sie einem Journalisten.
Das Stück lässt sich dem Genre des dokumentarischen Theaters zuordnen. Dieses Genre scheint sich für das Thema Flucht und Asyl besonders anzubieten, weil es durch die kommentarlose Vorführung der nüchternen Realität deren Widersprüchlichkeit und Zynismus besonders eindrücklich offenlegen kann. In den letzten Jahren haben etwa die Inszenierungen Die Asylmonologe oder Front ex Security das dokumentarische Theater auf sehr gelungene Weise zur Bloßstellung der europäischen Asylpolitik genutzt. Maxi Obexer wählt nun dieses Genre, um den Europäern ihren Umgang mit den Lampedusa-Katastrophen vorzuführen.
An diesem Abend werden nur Auszüge des Theaterstücks präsentiert, vorgelesen von drei Ensembleschauspielern. Sie sitzen an einem Tisch, bewegen sich kaum. Zwei von ihnen spielen ein Journalistenpärchen, das nach Italien kommt, um die Vorgänge zu untersuchen. Der Dritte spielt wechselnde Rollen: den Fischer, der die Identitätskarte fand, den Bürgermeister, seinen Mitarbeiter und den Pfarrer. Die beiden Journalisten interviewen all diese Menschen und diskutieren zwischendurch untereinander.
"Sie hätten nicht umkommen sollen"
Ihre Betroffenheit prallt in den Interviews auf skurrile Weise gegen eine Festung des Schweigens, Nicht-Wissen- und Nicht-Hören-Wollens. Der Fischer will nur von der gefundenen Identitätskarte erzählen, nicht von den Knochen, weil es offenbar gegen das Seerecht verstößt, gefundene Knochen mitzunehmen. Deshalb sprechen die Fischer einfach nicht mehr darüber, um nicht belangt zu werden. Die beiden Journalisten fragen immer wieder: „Haben Sie nicht auch Knochen gefunden?“ Der Fischer klingt wie eine hängengebliebene Schallplatte, denn er antwortet jedes Mal: „Ich habe eine Identitätskarte gefunden! Aus Plastik!“ Der Bürgermeister erklärt: „Sie hätten nicht umkommen sollen. Sie hätten hier ankommen sollen. Hier anzukommen, ist ihre Aufgabe. Sie hätten nicht umkommen sollen.“ Den letzten Satz wiederholt er bei jeder weiteren Frage. Ansonsten spricht er über die touristischen Reize seiner Stadt, vor allem die köstlichen Süßspeisen.
Die Dialoge sind teilweise so absurd, dass im Publikum gelacht wird. Stellenweise denkt man bei all dieser Sinnfreiheit und dem gekonnten Aneinander-Vorbei-Reden an Kafka, Loriot oder das Absurde Theater, obwohl keiner dieser Vergleiche die Sache trifft. Vieles bleibt verwirrend und rätselhaft. Das Stück gewinnt erheblich durch gelegentliche sehr gelungene Formulierungen, etwa im Gespräch der Journalisten auf der Reise nach Sizilien: „Es ist alles so abwesend,“ über diese merkwürdige nicht greifbare Tragödie.
Perspektivwechsel
Während Das Geisterschiff den Schwerpunkt auf die europäische Perspektive legt, nimmt der danach gezeigte Dokumentarfilm Mare Chiuso (Geschlossenes Meer; 2012) des italienischen Journalisten Stefano Liberti gezielt die Perspektive der Flüchtlinge ein. Auch hier ist eine sehr konkrete Begebenheit Ausgangspunkt der Auseinandersetzung: die Zurückweisungen auf offenem Meer, die das italienische Militär von 2009 bis 2011 durchführte. Nach Abschluss des Rückführungsabkommens zwischen Berlusconi und Gaddafi wurde es gängige Praxis, Flüchtlingsboote bereits auf See abzufangen, die Passagiere auf italienische Schiffe zu verfrachten und direkt nach Tripolis zurückzufahren. Ohne Identitätsfeststellung, ohne die Ermöglichung eines Asylgesuchs.
Diese Praxis stellte einen eklatanten Verstoß gegen das sogenannte Non-Refoulement-Gebot der Genfer Konvention dar, das Verbot, einen Flüchtling in ein Land zurückzuschicken, in dem ihm Folter, andere schwere Menschenrechtsverletzungen oder Tod drohen. Zwar verfährt Frontex, die euroäische Grenzagentur, bis heute so, aber zumindest bezogen auf Italien erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Vorgehen 2012 rückwirkend für rechtswidrig und sprach einigen überlebenden Flüchtlingen sogar Schadensersatz zu.
Den meisten hilft das nicht mehr – in Libyen wurden die zurückgewiesenen Flüchtlinge ins Gefängnis gebracht und dort unter Folter auf unbestimmte Zeit festgehalten. Im Film erzählen sie von den Grausamkeiten, die sie dort erleben mussten, und man erfährt, dass die libyschen Gefängnisse berüchtigt sind und nicht alle Menschen ihren Aufenthalt dort überleben. Mit dem Beginn des Kriegs der NATO gegen Libyen gelang einigen die Flucht in das UNHCR-Flüchtlingslager Shousha an der tunesisch-libyschen Grenze.
Tränen und Zorn
Dort traf Stefano Liberti sie, lebte zwei Wochen lang mit ihnen zusammen und ließ sich ihre Geschichte erzählen. In seinem Film lässt er eine Gruppe von Flüchtlingen zu Wort kommen, die alle in demselben Boot unterwegs waren, in dasselbe libysche Gefängnis kamen und anschließend nach Shousha. Er nimmt sich Zeit für die Gespräche, zeigt immer wieder die Gesichter der erzählenden Flüchtlinge in Nahaufnahme, zeigt ihre Gefühle, die Tränen, den Zorn, das Unverständnis und macht sie so erfahrbar als Menschen, die uns sehr nahe sind.
Besonders ein Fall ist ergreifend: ein junger Mann, der seine hochschwangere Frau schon nach Italien vorausgeschickt hatte und nachkommen wollte. Er wollte seine neugeborene Tochter kennenlernen, stattdessen schickte ihn das italienische Militär auf eine dreijährige Odyssee durch Gefängnis, Folter und Flüchtlingslager. Im Gegensatz zu fast allen anderen hatte er jedoch aufgrund des Prinzips der Familienzusammenführung einen Anspruch auf ein EU-Visum. So konnte er schließlich doch nach Italien einreisen und seine Familie am Flughafen in die Arme schließen. Das ist eine der einprägsamsten Szenen des Films mit hohem Rührungspotential.
Gezielte Nicht-Zuständigkeit
Zwischendurch werden immer wieder Szenen aus dem Prozess am Europäischen Gerichtshof gezeigt. Man sieht, wie der Vertreter des italienischen Staats erklärt, man habe Libyen angewiesen, die Menschenrechte zu achten. Deshalb sei nun davon auszugehen, dass die Menschenrechte dort eingehalten würden und der Rückführung von Flüchtlingen nach Libyen stehe nichts mehr im Wege.
Eine solche Scheinheiligkeit und gezielte Nicht-Zuständigkeit ist empörend. Es ist klar, dass Libyen sich an eine solche Weisung nicht hält und die italienische Regierung das auch nicht kontrolliert. Dass den Behauptungen eines Staates bezüglich der Menschenrechtslage prinzipiell mit Skepsis zu begegnen ist, ist ebenfalls klar – eine bessere Informationsquelle bieten die Analysen von Amnesty International oder Pro Asyl. Vor allem ist aber all dies natürlich auch der italienischen Regierung und ihren Vertretern bekannt. Sich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu stellen, in einem Verfahren, in dem es um Tod und Folter geht, und eine solche Antwort zu geben, das ist an Dreistigkeit und Zynismus kaum zu überbieten.
Es gibt viele solcher Szenen im Film, zu denen einem außer Empörung nicht mehr viel einfällt. Dazwischen immer wieder die Flüchtlinge, die so mitfühlend, fast liebevoll dargestellt werden – ein Spießrutenlauf für den empathischen Zuschauer.
Humor als Mittel der Wahl
Der Film ist so stark, dass das Theaterstück daneben verblasst. Während Das Geisterschiff den Zuschauer ein wenig betroffen, aber vor allem verwirrt, stellenweise amüsiert und irritiert zurücklässt, löst Mare Chiuso in rasantem Tempo starke Emotionen aus. Nun ist ein Theaterstück, das verwirrt und irritiert, nicht das Schlechteste. Aber Humor? Lachen? Bei diesem Thema? Ist ein kafkaesk-absurdes Drama die angemessene Reaktion auf fast dreihundert Tote?
Diese Fragen stellt auch eine Zuschauerin. Die Autorin Maxi Obexer antwortet, sie habe bewusst etwas produzieren wollen, das den Zuschauer nicht betroffen und paralysiert zurücklässt, sondern lachend. Denn der Humor sei das viel besser geeignete Mittel, um tatsächlich Selbstreflexion und damit Veränderung auszulösen.
Das ist grundsätzlich nicht falsch. Loriot hat es vorgemacht: wenn man der Gesellschaft den Spiegel nicht böse, sondern milde lächelnd vorhält, kann man gerade dadurch eine enorme Wirkung erzielen. Aber in seinen Arbeiten geht es um qualitativ andere Themen. Dagegen ist Lampedusa eines der wenigen aktuellen Themen, bei dem es tatsächlich unmittelbar um Leben und Tod geht.
Außerdem dürften sich zumindest in Deutschland die wenigsten Zuschauer durch die absurden Vorstellungen eines sizilianischen Fischers oder Bürgermeisters zur Selbstkritik ermutigt fühlen. Die Personen sind uns fern und werden durch das Stück eher noch ferner als näher gebracht. Während der Film es schaffen dürfte, selbst gänzlich politikfernen Menschen die afrikanischen Flüchtlinge so nah wie ihre eigenen Nachbarn zu bringen – weil er sie als Menschen mit ganz normalen, nachvollziehbaren, selbstverständlichen Emotionen und Bedürfnissen erfahrbar macht.
Kein Widerspruch
Zwar wird diese Herangehensweise von Feuilletonisten und Theaterschaffenden gerne kritisiert: Man habe schon viel zu viele dieser ergreifenden Geschichten gehört, so dass man abstumpfe. Diese Methode sei inzwischen sogar im Kindertheater angekommen. Außerdem schwebt spätestens seit Bertolt Brecht die Behauptung im Raum, dass Kunst, die auf große und einfache Emotionen setzt, gerade kein kritisches Nachdenken auslösen könne.
Stefano Libertis Film liefert den bestmöglichen Beweis des Gegenteils. Bei diesem Thema scheint eine künstlerische Bearbeitung besonders ertragreich zu sein, die gerade durch Einfühlung eine kritische Reflexion ermöglicht. Der Durchschnittseuropäer wird durch die Empathie mit den Flüchtlingen überhaupt erst zur Selbstkritik hingeführt. Man kann nicht mit afrikanischen Flüchtlingen mitfühlen, ohne sich anschließend kritische Gedanken zur europäischen Asylpolitik zu machen. Die Tränendrüse ist bei diesem Thema das Mittel der Wahl.
Dass das auch im dokumentarischen Theater gelingen kann, hat Michael Ruf mit den Asylmonologen vorgemacht. Seine Inszenierung ist ebenso spartanisch und nüchtern wie die von Maxi Obexer, dennoch wirft sie die wichtigen Fragen auf und liefert die entscheidenden Informationen: wie das europäische Asylsystem funktioniert, oder besser gesagt, nicht funktioniert, welche Erfahrungen die Flüchtlinge darin machen, welche Erfahrungen sie mitbringen, wenn sie kommen. In seinem Stück kommt Humor nicht vor. Insgesamt ist seine Auseinandersetzung mit dem Thema wesentlich ertragreicher als die von Maxi Obexer, gerade weil sie vor der Keule des moralischen Vorwurfs nicht zurückschreckt, auch wenn dieser nicht explizit ausgesprochen wird.
Libertis Film hat ein starkes und durchaus diskussionswürdiges Ende: Wenn der Flüchtling am Ende sein Visum bekommt, nach Italien kommen darf und am Flughafen seine Familie begrüßt, so ist das nicht ganz unproblematisch. Der Zuschauer wird mit einem Happy-End entlassen, das nicht repräsentativ für die Realität ist, und könnte womöglich denken, dass die Probleme sich ja doch von selbst lösen und das System so schlecht nicht sein kann. Im anschließenden Gespräch erzählt Liberti, dass dieses Visum – auf das die meisten Flüchtlinge ohnehin keinen Anspruch haben – nur seiner persönlichen Intervention, besser gesagt der eines befreundeten Parlamentariers, zu verdanken war. Andernfalls säße der Mann vermutlich immer noch in Shousha.
Warum Liberti sich dennoch für diese Szene gegen Ende des Films entschieden hat? Weil sie Menschen erreicht. Sie ist nicht gespielt, sondern live mitgefilmt, und sie zeigt uns, um welche Selbstverständlichkeiten es eigentlich geht: Ein Mann möchte endlich seine kleine Tochter sehen. Er will mit seiner Familie zusammen in Frieden leben können. Als das endlich gelingt, weint die ganze Familie vor Glück. Das ist ganz nah an uns dran, ganz normal und verständlich.
Endlich anwesend
Gegenüber dem ständig heraufbeschworenen bedrohlichen Ansturm afrikanischer Flüchtlinge auf das reiche Europa sind solche Darstellungen dringend notwendig, um die Menschen hinter den Lampedusa-Schlagzeilen sichtbar zu machen. Denn nicht nur die Selbstkritik der Europäer ist in dieser Debatte viel zu oft „abwesend“, sondern auch die Wahrnehmung der Flüchtlinge als Individuen, die sich von uns nicht nennenswert unterscheiden. Sie verschwinden allzu oft hinter der angeblichen Bedrohung durch eine vermeintliche Masseninvasion. Stefano Liberti rückt sie wieder in den Blick. Zumindest für die Dauer des Films sind die Flüchtlinge anwesend.
Berlin calling Lampedusa, 23.-25.1.2014, Heinrich-Böll-Stiftung und Gorki-Theater
Das Geisterschiff Maxi Obexer Deutschland 2007
Mare Chiuso Stefano Liberti, Andrea Segre Italien 2012
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