Fluchtpunkte

Film Das Doku-Drama „Über das Meer – Die DDR-Flucht des Erhard Schelter“ versucht, mit Spannung zu überzeugen. Aber was kann der Film über den Einzelfall hinaus erzählen?

Der Film „Über das Meer" erzählt im Stil eines Doku-Dramas die Geschichte von Erhard Schelter, der 1974 aus der DDR floh, indem er durch die Ostsee schwamm. In einer Mischung aus Interviews mit Beteiligten, nachgespielten Szenen und historischen Archivaufnahmen entsteht ein detail- und facettenreiches Bild einer persönlichen Fluchtgeschichte, die seinerzeit (westdeutsche) Schlagzeilen machte.

Kein Wunder, denn die Geschichte ist spektakulär: der Taucheranzug ohne Leuchtstreifen, der aus Westdeutschland besorgt werden musste, der Startpunkt direkt unter dem Küstenwachturm in Boltenhagen (wegen des toten Winkels) und vor allem das Ende – von der Strömung gen Dänemark abgetrieben und am Ende ihrer Kräfte werden Schelter und sein Begleiter von der Küstenwache der DDR gesichtet. Ein westdeutsches Kreuzfahrtschiff positioniert sich in einem gewagten Manöver zwischen den Flüchtlingen und der Küstenwache und rettet sie. Beide überleben und werden in Westdeutschland eingebürgert.

Dieses Finale, das muss man dem Film zugute halten, wird nicht so dramatisch inszeniert, wie es möglich gewesen wäre. Das könnte aber auch daran liegen, dass der Regisseur Arend Agthe das dramatische Potential der Geschichte zu diesem Zeitpunkt bereits überstrapaziert hat. Eine DDR-Fluchtgeschichte verspricht Spannung, zumal wenn sie monatelang aufwändig vorbereitet werden musste. Und da gibt es viele Gelegenheiten, einen Stasi-Mann hinter einem Busch hervorspringen zu lassen. Der der Film nutzt sie gerne. Spätestens nach dem dritten Mal hat man das Prinzip verstanden: ein Auto mit zwei jungen Männern auf der einsamen Landstraße – die Stasi.

Wenig mehr als ein spannender Einzelfall

Auch wenn Agthe seinen Protagonisten nicht einseitig als Helden darstellt und man über den ewig zelebrierten Konsummangel hinaus interessante Details aus dem DDR-Alltag erfährt, etwa wie die Vergabe von Studien- und Ausbildungsplätzen konkret gehandhabt wurde – insgesamt bleibt der Film hinter seinem Anspruch zurück, mehr als einen spannenden Einzelfall zu erzählen. Als gelegentlicher ZDF-History-oder-Event-Zweiteiler-Zuschauer hat sich längst ein gewisses Völlegefühl an DDR-Fluchtgeschichte eingestellt. Und Stasi-Mitarbeiter bei der Arbeit gehören nicht erst seit „Das Leben der Anderen“ zur Grundausstattung jedes DDR-Films. Immerhin ist "Über das Meer" differenziert in seinem Urteil über die Spitzel: Nicht jeder Stasi-IM ist pauschal als Täter abzutun. Das System war etwas komplizierter.

Darüber hinaus offenbart der Film allerdings schon durch den Titel seine geringe gesellschaftliche Relevanz. Bei den Stichworten „Flucht“ und „über das Meer“ denkt der politisch interessierte Mensch heute an ein anderes Phänomen. Und da wirft der Film tatsächlich einige Fragen auf: Warum bringen wir so viel Verständnis mit Menschen auf, deren Problem darin besteht, dass sie ihr Land nicht verlassen dürfen? Was ist mit denen, die ein Land, in dem es ihnen schlecht geht, zwar verlassen, aber Länder, in denen es ihnen besser gehen würden, nicht betreten dürfen?

So macht "Über das Meer" deutlich, wie stark der Erfolg einer Flucht von den vorhandenen Ressourcen abhängt – von Kontakten, Geld, Ausrüstung. Das gilt noch immer, nur sind die Fluchtrouten inzwischen wesentlich länger, die Ausstattung häufig aber schlechter. Auch deshalb sind in den letzten 25 Jahren mindestens 20.000 Menschen an den europäischen Grenzen gestorben.

Über das Meer - Die DDR-Flucht des Erhard Schelter Arend Agthe Deutschland 2014, 80 Minuten

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Geschrieben von

Andrea Wierich

Praktikantin in der Freitag-Redaktion

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