In seiner Autobiografie schrieb Charlie Chaplin 1964 reumütig, dass er den Film Der große Diktator nie gedreht hätte, wären ihm die Ausmaße der Verbrechen in den deutschen Konzentrationslagern bewusst gewesen. Für den Humanisten war es ein Schock, zu realisieren, dass er mit seinem Film einen gefährlichen Irren zu einer harmlosen Witzfigur degradiert hatte. Tatsächlich klang Chaplins Meinung über Hitler vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs um einiges dezidierter als die einiger europäischer Nachbarn, die Hitler lange als ebenbürtigen Verhandlungspartner angesehen hatten. Chaplin beobachtete den Anschluss Österreichs im März 1938 und Hitlers Pakt mit Stalin im August 1939 mit düsteren Vorahnungen, während der britisch
der britische Premier Neville Chamberlain noch hoffte, Hitler durch Zugeständnisse von einem Krieg abzubringen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Chaplin bereits mitten in den Dreharbeiten zu seinem Werk Der große Diktator.Auch Hollywood reagierte anfänglich nervös auf Chaplins Idee einer Hitler-Satire. Zu wichtig war der europäische Markt für die amerikanischen Studios, als dass man ein Risiko eingehen wollte. Diese pragmatische Haltung war umso erstaunlicher, weil viele der einflussreichen Studiomagnaten der US-Filmindustrie jüdischer Herkunft waren: Adolph Zukor (Paramount), Carl Laemmle (Universal), Louis B. Mayer (Metro-Goldwyn-Mayer), Jack Warner (Warner Brothers) und Harry Cohn (Columbia Pictures). Zwar betrachtete man Hitlers Ambitionen mit Sorge, die Geschäfte wollte sich deswegen trotzdem niemand verderben lassen.So war Chaplin gezwungen, die Produktion des Films über sein Studio United Artists aus eigener Tasche zu finanzieren. Er hatte keine andere Wahl, selbst enge Geschäftspartner fürchteten um die Absatzmärkte in Großbritannien und Deutschland. Also errichtete er auf einem Gelände in New York die Filmkulisse eines jüdischen Ghettos, während die Pläne des NS-Staats, die jüdische Bevölkerung in geschlossenen Vierteln zusammenzupferchen und zu quälen, bereits konkrete Formen annahmen.559 Tage, davon 170 Drehtage, dauerte die Produktion. Chaplin war berüchtigt für sein schleppendes Arbeitstempo, so dass sich die Lage gravierend verändert hatte, als sein Werk am 15. Oktober 1940 in zwei New Yorker Kinos – dem Astor und dem Capitol – uraufgeführt wurde. Vier Monate zuvor war Frankreich überrannt worden und hatte vor der deutschen Wehrmacht kapituliert. Selbst flammende Pazifisten waren inzwischen überzeugt, dass von Hitler eine existenzielle Gefahr für die Menschheit ausging. Auch Chaplin hatte nach Drehschluss den Ernst der Lage erkannt. Er stoppte die Endfertigung und drehte seine berühmte Schlussrede nach – ein Aufruf an die Welt, sich dem Faschismus mit vereinten Kräften entgegenzustellen. Alle Befürchtungen, dass Der große Diktator als Propaganda verstanden werden könnte, waren zu diesem Zeitpunkt ohnehin hinfällig. In der Dokumentation The Tramp and the Dictator von Kevin Brownlow und Michael Kloft erzählt ein ehemaliger Chaplin-Assistent, dass Franklin D. Roosevelt Chaplin persönlich darum gebeten habe, den Film fertigzustellen. Chaplin vermerkte in seiner Autobiografie: „Ich erhielt ein Telegramm aus unserem New Yorker Büro, in dem stand: ‚Stell Deinen Film schnell fertig, alle warten auf Dich!‘“Der große Diktator wurde Chaplins erfolgreichster Streifen und gab den Auftakt für eine Reihe von Nazi-Parodien aus Hollywood. Das Slapstick-Trio The Three Stooges drehte kurz hintereinander You Nazty Spy! und I’ll Never Heil Again. Donald Duck persiflierte in Der Fuehrer’s Face die Propaganda des Hitler-Regimes, und Ernst Lubitsch drehte Sein oder Nichtsein. Der große Diktator war freilich mehr als ein Stück Gegenpropaganda, Chaplin hatte noch eine persönliche Rechnung mit Hitler offen. Nicht nur dass der sein bekanntes Markenzeichen, den kastigen Schnauzer, diskreditierte. Die Nazis hatten Chaplin schon früher für ihre antisemitische Propaganda missbraucht. Zur Premiere von Lichter der Großstadt war er 1931 von der rechten Presse wenig gastfreundlich empfangen worden. Man nannte Chaplin fälschlicherweise einen „amerikanischen Filmjuden“ und „antideutschen Kriegstreiber“. Später benutzten die Nationalsozialisten Aufnahmen seines Berlin-Besuchs in dem Hetzfilm Der ewige Jude. Chaplins Klassiker Goldrausch hatte Goebbels 1935 verbieten lassen.Der „amerikanische Jude Chaplin“ verkörperte für die NS-Propaganda das antisemitische Feindbild schlechthin – eine Stigmatisierung, die perfekt in Chaplins Rollentypus des Underdogs passte. Das brachte ihn auf die Idee, Hitler nicht nur zu persiflieren, sondern den GröFaZ auch mit seinem berühmten Alter Ego, dem Tramp, zu konfrontieren. Chaplins jüdischer Friseur steht in Der große Diktator stellvertretend für die jüdische Bevölkerung. Erst schikanieren die Nazi-Schergen den kleinen Haarschneider, dann zieht ihnen Paulette Goddard mit der Bratpfanne eins über, am Ende kapert er – irrtümlich für den großen Tyrannen Hynkel gehalten – das Rednerpult, um sein Plädoyer für die Menschlichkeit zu halten.Chaplins Schlussrede bedient sich im Film des Brecht’schen Verfremdungseffekts. Der Komiker tritt aus seinen Figuren – dem Diktator und dem Friseur – heraus und schafft ein selbstreflexives Moment. Die Parodie wird zu einem performativen Akt. Darin tritt auch eine Idiosynkrasie zutage, die in Der große Diktator mitschwingt. Hitler kam als Redner an die Macht, in stummen Aufnahmen aus den 30er Jahren sah er dagegen tatsächlich wie eine Witzfigur aus. Chaplin hingegen war ein Stummfilmstar, der noch in der Ton-Ära mit Moderne Zeiten an der Ästhetik des Stummfilms festhielt und in Der große Diktator plötzlich als Rhetoriker auftrat. Von diesem Paradox lebte das Spiel Chaplins, der für seine Rolle als Hynkel Originalaufnahmen von Hitler studiert hatte. Unter anderem sah er Wochenschauen und Leni Riefenstahls Triumph des Willens, um Hitlers Gestik und Mimik imitieren zu können.Die Manierismen des Komikers legten aber auch die psychologische Grundierung der Inszenierung frei, die am besten in der anderen berühmten Szene des Films – Hynkels Ballett mit der Weltkugel – zum Ausdruck kam. Auf einen absurden Dialog zwischen Hynkel und seinem Propagandaminister Garbitsch über Juden und Braunhaarige folgt eine Lobpreisung Hynkels als quasi-göttlicher Führer, die diesen in einem Anflug von Selbstzweifel buchstäblich an die Decke gehen lässt. Die Szene gipfelt im Tanz mit der Weltkugel, an dessen Ende, nachdem der Globus unter seiner Hand zerplatzt ist, Hynkel wie ein kleines Kind zu flennen beginnt. In solchen Momenten erinnert Der große Diktator noch einmal daran, dass Hitler-Darstellungen im Kino durchaus auch andere Register als die historische Mimikry beziehungsweise die minderbemittelte Führer-Karikatur ziehen können. Dies gilt umso mehr, als das deutsche Kino gerade ein „entspanntes“ Verhältnis zu den Themen Drittes Reich und Nationalsozialismus entwickelt. Der große Diktator hat, obwohl er immer schon etwas aus der Zeit gefallen war, in vielerlei Hinsicht nichts an Aktualität eingebüßt.Hitlers Globus, den Chaplin in Fotos aus der Reichskanzlei entdeckt und der ihn zu dem absurden Ballett inspiriert hatte, überstand die Luftangriffe der Alliierten. Er steht heute unversehrt im Deutschen Historischen Museum, während Der große Diktator 1997 in die National Film Registry der Library of Congress aufgenommen wurde. Ein vergiftetes Lob erhielt Chaplins Werk später von Hitlers Architekt Albert Speer, der vom „besten Dokumentarfilm über das Dritte Reich“ sprach. Man muss es wohl eine zynische Laune der Geschichte nennen, dass Chaplin, der seinen Film 1940 noch qua Präsidentendekret vollendet hatte, 1952 als verdächtiger Kommunist aus den USA ausgewiesen wurde. Sein erster Film in Europa, Ein König in New York, war eine Satire auf die USA.
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