Lust auf Eierkuchen

1989 Vor 25 Jahren zieht erstmals eine Loveparade über den Westberliner Kurfürstendamm. Daraus entsteht bald ein neues Verhältnis zwischen Pop- und Massenkultur
Ausgabe 28/2014

Am 24. Juli 2010 ist unwiderruflich Schluss. An jenem Samstag endet auf einem ehemaligen Rangierbahnhof in Duisburg die Loveparade mit einer Tragödie. Bei einer Massenpanik auf dem überfüllten Veranstaltungsgelände sterben 21 Jugendliche, 541 Besucher werden zum Teil schwer verletzt. Die Verantwortlichen versuchen, sich während der Ermittlungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft mit widersprüchlichen Aussagen und gegenseitigen Schuldzuweisungen aus der Affäre zu ziehen. Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland lehnt es trotz energischer Forderungen aus seiner Stadt ab, die Verantwortung für das furchtbare Geschehen zu übernehmen und von seinem Amt zurückzutreten. Dem Veranstalter der Loveparade, einer bundesweiten Fitnessstudiokette, weisen die Ermittler grobe Fahrlässigkeit bei der Planung und dem Umgang mit Sicherheitsstandards nach. Der Stadt Duisburg wird attestiert, dass sie ein solches Risiko niemals hätte eingehen dürfen und massiv gegen geltendes Recht verstoßen habe. Nur einen Tag nach der Katastrophe verkündet Veranstalter und Hauptsponsor Rainer Schaller, mit der Loveparade sei es nun endgültig vorbei.

Das Inferno von Duisburg ist das unrühmliche Schlusskapitel einer turbulenten Geschichte, die Anfang Juli 1989 auf dem Westberliner Kurfürstendamm dank einer Handvoll Technoproduzenten, DJs und Clubbetreiber beginnt. Sie veranstalten zwischen Wittenberg- und Lehniner Platz eine überschaubare Pflasterparty mit einigen Umzugswagen und knapp 150 Teilnehmern. Innerhalb weniger Jahre wird daraus das weltweit größte innerstädtische Musik-Event. Zur Hochphase der Loveparade drängen sich Ende der 90er Jahre anderthalb Millionen rund um die Siegessäule zur Schlusskundgebung, die zunächst von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, später Privatsendern live übertragen wird. Aus einem Nischenphänomen der Technoszene ist nach einem Jahrzehnt das populärste und suggestivste Massenmeeting im wiedervereinigten Deutschland geworden, flankiert von kritischen Stimmen und Statements. Zum einen sehen sich die Veranstalter mit dem Vorwurf hemmungsloser Kommerzialisierung konfrontiert. Andererseits berichten die Medien vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte immer wieder skeptisch über die Massenaufläufe eines hedonistischen Jugendkults. Nach 2000, als viele Unternehmen die Loveparade längst als Werbeumfeld entdeckt haben, reicht die mediale Reflexion von Antipathien bis zum aggressiven Ressentiment. Alle Dämme brechen nach dem 24. Juli 2010 in Duisburg.

Für reichlich Diskussionsstoff hatte von Anfang an der Status der Parade als politische Kundgebung gesorgt. Weil sie als Demonstranten gelten, können die Organisatoren die Kosten für Polizei, Absperrungen, Rettungsdienste und Straßenreinigung auf die Stadt Berlin abwälzen. Allerdings sind die Veranstalter dadurch einem ständigen Legitimierungszwang ausgesetzt. Es gibt das Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“, abgelöst durch die Marke „One World, One Future“ – beides wenig geeignet, den politischen Anspruch öffentlichen Abtanzens zu untermauern. Einem jahrelangen Streit mit der Stadt Berlin um die steigenden Kosten bereitet schließlich 2001 das Bundesverfassungsgericht ein Ende.

Der Loveparade wird laut Versammlungsgesetz der Demonstrationsstatus aberkannt. Was daraus folgt, kann nicht weiter überraschen: Das Urteil leitet den schleichenden und unaufhaltsamen Niedergang einer kultischen Parade ein, der von schwindenden Besucherzahlen, immer exzessiveren Werbekampagnen und bizarren Auftritten rund um die Veranstaltung begleitet wird. Auf der Loveparade vom Juli 2000 gibt der Chorkönig Gotthilf Fischer eine Technoversion von Hoch auf dem gelben Wagen zum Besten. Ein Jahr später äußert Loveparade-Mitbegründer Jürgen Laarmann in der Frankfurter Allgemeinen Verständnis für die ablehnende Haltung vieler Berliner gegenüber diesem Treiben. Fortan sind Planungen wiederholt von bürokratischem Hader um Genehmigungen überschattet, die von den Behörden oft erst kurz vor Veranstaltungsbeginn erteilt werden. 2004 und 2005 muss die Loveparade aus finanziellen Gründen ganz ausfallen, 2006 kehrt sie ein allerletztes Mal in die Hauptstadt zurück. Danach kann kein Konsens zwischen Senat und Ausrichter mehr gefunden werden. Die Loveparade wandert ins Ruhrgebiet ab – das sonst so tolerante Nachwende-Berlin entsorgt ein permanentes Ärgernis.

An der wechselhaften Geschichte der Loveparade lassen sich verschiedene Entwicklungen im Verhältnis von Pop- und Massenkultur von den 90er Jahren bis heute beispielhaft aufzeigen. Der linke Pop-Diskurs, der sich im wiedervereinten Deutschland als Folge der rassistischen Übergriffe von Rostock, Hoyerswerda und Solingen früh außerhalb von Massenphänomenen wie der Loveparade positionierte, beäugte den naiven Hedonismus der Rave Society kritisch. Das utopische Potenzial einer entpolitisierten Gesellschaft, in der alle Mitglieder ohne ideologische Vorbehalte gleiche Rechte genössen, generiere nach Ansicht des Pop-Theoretikers Diedrich Diederichsen zwangsläufig ein gleichgeschaltetes Volksempfinden, das jede Form von subjektiver Erfahrung suspendiere. Der Schriftsteller Rainald Goetz erkennt hingegen im Aufgehen in der Masse ein demokratisches Ideal mit quasi-religiösen Zügen. Als „Kirche der Ununterscheidbarkeit“ bezeichnet er in den 90er Jahren die Loveparade, deren politischer Sinn eben darin bestehe, eine vollkommen heterogene „Sozialmelange“ aus dem gesamten Gesellschaftsspektrum hervorzubringen. Demgegenüber steht stets der elitäre Habitus einer Gegenkultur, die nicht zuletzt aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte heraus die Befindlichkeiten des „Plebses“ misstrauisch beäugt.

Im Rückblick scheint die Loveparade ein authentischer Ausdruck einer homogenen Jugendkultur gewesen zu sein, die so konsequent wie keine andere Subkultur Mechanismen der Vermarktbarkeit verinnerlicht hatte. Demnach wäre die Katastrophe von Duisburg kein Unfall und keine Manifestation des kulturell determinierten Todestriebs einer desorientierten Jugend gewesen, wie seinerzeit im bürgerlichen Feuilleton ernsthaft überlegt wurde. Vielmehr handelte es sich um den logischen Kollaps eines entfesselten Wertschöpfungsprozesses. Die Veranstalter konnten das Ereignis in seinem maßlosen Wachstum irgendwann nicht mehr beherrschen. Im Moment der Katastrophe hatte die Loveparade schon lange nichts mehr mit dem naiven Ideal einer feiernden, klassenlosen Gesellschaft gemein, die sich eine Metropole wie Berlin für einen Tag zu eigen machte. Die Transzendenzversprechen des Pop basierten auf solch kollektiven Schlüsselerlebnissen. In Duisburg starben hingegen Menschen, hilflos einer hin- und herwogenden Menge ausgeliefert.

Diese Tragödie musste zwangsläufig das Verhältnis von Öffentlichkeit und öffentlichem Raum verändern und dessen stringenter Regulierung Vorschub leisten, obwohl die Berliner Loveparade fast 15 Jahre lang ohne ausgeklügeltes Sicherheitskonzept ausgekommen war. Heute werden Fanmeilen und Public-Viewing-Arenen nicht sich selbst überlassen, sondern kontrolliert gesteuert. Oft entsteht der Eindruck, die Masse wird gerufen, um dann unter Generalverdacht zu stehen.

Episodische Versuche, die Loveparade noch einmal zu beleben, sind seit 2010 zum Scheitern verurteilt. Heute müssen zuweilen Sportveranstaltungen den Part übernehmen, ein diffuses Gemeinschaftserleben zu suggerieren. Popmusik, für die vor einem Vierteljahrhundert junge Menschen, die aus zwei grundsätzlich verschiedenen Gesellschaftssystemen kamen, auf die Straße gingen, hat ihren verbindenden und verbindlichen Charakter längst verloren.

Andreas Busche erinnerte hier zuletzt an den Massenmörder Fritz Haarmann

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