Fünfzig Jahre Ken Loach. Der letzte aufrechte Kämpfer für die Arbeiterklasse im europäischen Autorenkino macht mit Ich, Daniel Blake demonstrativ den Sack zu – in der Nachspielzeit, wenn man so will. Eigentlich hatte sich der 80-jährige Loach bereits mit dem etwas nostalgiebesoffenen Jimmy’s Hall (2014) vom Kino verabschiedet. Dass er doch noch einmal zurückkehrt, verschafft seinem vermutlich allerletzten Film besonderen Nachdruck.
Vieles spricht für diese These. Ich, Daniel Blake kartet trotz seines vermittelnden Humors mit einem ungewohnt unversöhnlichen Tonfall nach, entsprechend vernichtend fällt Loachs Urteil über die englische Politik der vergangenen 30 Jahre aus. Der Film ist als eine Art Resümee des systematischen Sozialstaatabbaus unter Thatcher/Blair/Cameron zu verstehen – und damit indirekt als Bilanz des eigenen Werks. Der Furor hat etwas Letztgültiges, der Kreis scheint sich zu schließen. 50 Jahre Loach ist eine Ära mit klarem Frontverlauf. Anlass genug also, Loachs Karriere noch einmal von ihren Anfängen her zu begreifen.
Sie begann 1966 mit dem Fernsehspiel Cathy Come Home. Der Film war in England ein Riesending, weil man harten Sozialrealismus in der staatstragenden BBC nicht gewohnt war. Loachs ungeschliffene Dokudrama-Ästhetik störte die bequeme Gewissheit der Fernsehnation, dass das, was außerhalb der Nachrichten über den Bildschirm flimmerte, wenig mit der gesellschaftlichen Realität zu tun hatte. Der Film über eine junge Mutter, die in die Obdachlosigkeit abrutscht, intervenierte für einen Moment sogar in der britischen Sozialpolitik, die Ausstrahlung sorgte für Diskussionen im Parlament. 50 Jahre später reicht es mit Ich, Daniel Blake gerade noch für wohlwollende Besprechungen im Feuilleton („ein neuer Loach“) und schlaffe Selbstvergewisserung. Im Guardian erzählte Loach, dass er lieber im London Cathys leben würde als in dem von Daniel Blake. Mit Nostalgie hatte das allerdings nichts zu tun.
Schuhe ausm Kofferraum
Ich, Daniel Blake wäre tatsächlich ein fulminanter Schlusspunkt unter Loachs Lebenswerk. Entlang der dramaturgischen Konvention einer Einzelschicksalserzählung beobachtet der Film akribisch die menschenunwürdige Bürokratie des sogenannten zweiten Arbeitsmarktes, der die Abgehängten des ersten Arbeitsmarkts für seinen Bedarf zurechtstutzt. Konsequenz einer sozialdemokratischen Bündnispolitik, die Anfang der nuller Jahre von Tony Blair bis Gerhard Schröder reichte. Loachs Titelfigur ist ein Handwerker um die Sechzig, der nach einem Herzinfarkt vom Arzt für arbeitsunfähig erklärt wird. Die Gesundheitsbehörde, die ihr telefonisches Evaluationsverfahren an eine amerikanische Firma outgesourct hat, kommt jedoch zu einem anderen Schluss. Sie verweigert ihm das Krankengeld und verweist ihn ans Arbeitsamt.
So findet sich Daniel Blake (Dave Johns) in einer paradoxen Situation wieder: Um Arbeitslosengeld beanspruchen zu können, muss er sich um Jobs bemühen, die er aus gesundheitlichen Gründen gar nicht annehmen darf. Dass es dem Apparat nur darum geht, dem zweiten Arbeitsmarkt neue Niedriglohnjobber zuzuschustern, steckt eine Sachbearbeiterin Daniel: „Sie spekulieren darauf, dass Sie aufgeben!“ Unterstützung findet der Witwer bei der alleinerziehenden Mutter Katie (Hayley Squires), die das Amt mit ihren zwei Kindern gerade aus Kostengründen von London in den Norden Englands umgesiedelt hat, und seinem afrobritischen Nachbarn China (Kema Sikazwe), der aus dem Kofferraum Markenturnschuhe aus chinesischen Sweatshops verkauft. Loachs Regenbogen-Allianz der Abgehängten ist vorbildlich besetzt.
So gibt es auf den ersten Blick in Ich, Daniel Blake nur wenig Neues zu entdecken. Loachs gut gemeinte Sozialdramen ließen zuletzt immer deutlicher erkennen, dass die gesellschaftlichen Analysen die Komplexität einer neoliberalen Wirtschaftspolitik nur unzureichend erfassen – die Argumente stammen aus einer anderen Zeit. Für Loach spricht, dass er diese Zeiten noch persönlich erlebt hat. Seine Berniesandershaftigkeit ist sicher ein Grund, warum Loach im Kino weiterhin gebraucht wird. Ich, Daniel Blake wurde auf den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, Loachs zweite. Cannes hat sich längst als Ort etabliert, an dem sich die saturierte Arthouse-Mittelschicht trifft, um einen wohlmeinend sozialkritischen Film umstandslos zu kanonisieren.
Ich, Daniel Blake erweist sich bei näherem Hinsehen dann aber als einer von Loachs interessantesten, weil genauesten Filmen. Weil er nicht nur reflexhaft auf den Humanismus seiner Figuren insistiert, sondern auch die Mechanismen des abstrakten „Systems“ nüchtern vorführt. Aufgefangen werden diese fast prozessualen Beobachtungen von einem grandiosen Comedy-Körper, der die oftmals unausgegorene Mischung aus Gesellschaftskritik und Sozialromantik in früheren Loach-Filmen auf kongeniale Weise in seinem Spiel vereint. Die fatalistischen Einlassungen des hauptberuflichen Komikers Dave Johns erinnern an Stand-up-Routinen, mit denen sich professionelle Comedians eben auch vor der Öffentlichkeit exponieren. Johns’ Performance ist von schnodderiger Verletzlichkeit, darum findet er passende Antworten auf die kafkaesken Anwandlungen eines Systems, das Bedürftige mit Muzak in endlosen Telefonwarteschleifen mürbe zu machen versucht. Daniel Blake reagiert auf die Zumutungen mit einer „Kunstaktion“, direkt vor dem Eingang des Arbeitsamtes.
Info
Ich, Daniel Blake Ken Loach GB/FRA/BEL, 100 Minuten
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