Das andere Ende

Im Kino Joshua Marstons "Maria voll der Gnade" besticht durch Realitätssinn

Globalisierung, ein hässliches Wort. Wir kennen ihr Gesicht nicht, umso besser dafür die Prägungen, die sie ungebeten in der Landschaft hinterlässt. Die Märkte expandieren bis in die hinterste Provinz und das entlegenste Andendorf. In Joshua Marstons Debütfilm Maria voll der Gnade werden ihre Wirkungsweisen unterhalb der Führungsetagen, auf niedrigster kommunaler Ebene, mit großer Hinwendung zum Detail beschrieben: Anhand der Ausbeutung in den Entwicklungsländern und den Vertriebsnetzwerken in der "Ersten Welt". Zwar geht es das eine Mal um Rosen und das andere Mal um Heroin, doch die Strukturen sind sich sehr ähnlich. Den Unterschied merken allerdings diejenigen, die dabei ihr Leben aufs Spiel setzen.

Marstons Interesse gilt den schwächsten Glieder in der Wertschöpfungskette, den Menschen. Geschichten wie die von Maria mag es zu Tausenden geben, aber selten werden sie mit so viel Fingerspitzengefühl erzählt. Die Globalisierung erhält in diesem Film ein Gesicht - das der 23-jährigen Catalina Sandino Moreno. Die Schauspielerin ist schlicht ein Ereignis: traurig, ernst, stolz und schön, in einer Sekunde von entwaffnender Offenheit, in der nächsten überschattet von einer unnahbaren Ernsthaftigkeit, die die Seele der jungen Frau vor unseren neugierigen Blicken verschließt.

Maria lebt in einer kolumbianischen Kleinstadt, in der der größte Arbeitgeber ein Rosen-Großhändler ist. Die Mädchen hier arbeiten im Akkord; das Tagespensum muss erfüllt werden. Marias Job besteht darin, die Stile der Blumen zu entdornen, damit sie verpackt und nach Übersee verschifft werden können. Wir befinden uns am unteren Ende der Verwertungskette. Die Menschen haben nicht das Geld, die Produkte, die sie herstellen, auch zu kaufen. Niemand protestiert gegen die unwürdigen Arbeitsbedingungen, weil der Job ihnen immerhin die Existenz sichert. Marias Lohn muss ihre ganze Familie miternähren. Jeder ist auf den anderen angewiesen, das hält sie alle klein. Irgendwann hat Maria genug.

In Original lautet der Titel des Films Maria Full of Grace. Die Übersetzung in Maria voll der Gnade ist liturgisch einwandfrei, doch gibt sie nicht die Vieldeutigkeit des englischen Titels wieder. "Gnade" ist nur eine von vielen möglichen Übersetzungen des Wortes "Grace" - und nicht unbedingt die glücklichste. "Anmut" kommt einem beim Anblick der natürlichen, bestimmten Bewegungen und Blicke Morenos als erstes in den Sinn. Gnade ist etwas, das gewährt wird. Anmut besitzt man.

Auf dem Filmplakat wird das katholische Grundmotiv noch weiter ausgespielt. Es zeigt Moreno in demutsvoller Pose, in Erwartung der heiligen Kommunion. Aber es ist keine Hostie, die sie empfängt, sondern ein Tütchen mit Heroin; eines von insgesamt 62, die sie in ihrem Verdauungstrakt von Bogotá nach New York transportieren soll. Der internationale Drogenverkehr stellt in Maria voll der Gnade die andere Seite der Globalisierung dar.

Marstons Film hat nicht den Komplexitätsanspruch von Soderberghs Drogenkartell-Thriller Traffic. Drogenschmuggel ist hier eher ein symbolischer Akt, der denkbar letzte Schritt verzweifelter Selbstverwirklichung. Die Realität des Drogenschmuggels besitzt auch nicht den aalglatten Look einer Hollywood-Produktion. In Maria voll der Gnade sieht man dagegen alte Männer in dunklen Hinterzimmern sitzen, wo sie ihre Ware in Tütchen einschweißen lassen. Ein Arzt ist auch anwesend, für den Fall, dass etwas schief geht. Denn der Drogentransport im Magen bedarf medizinischer Aufsicht, sonst ist die Ware futsch - und der Kurier tot. Die Verdauung muss verlangsamt werden, damit sich die Beutel nicht frühzeitig zersetzen. Doch vorher müssen die Mädchen noch ihre Speiseröhre weiten. Es ist ein schmerzvoller Prozess, den der Film mit großer Ruhe schildert. Wie Maria ganze Weintrauben zu schlucken versucht, um Platz zu schaffen für die Herointütchen - und wie sie danach am Essenstisch sitzt und eine Tüte nach der anderen herunterwürgt. Mit jeder Minute wird die Szene unerträglicher.

In New York angekommen, erleben die Mädchen eine böse Überraschung. Sie werden von ihren Kontaktleuten gewaltsam verschleppt und in einem Hotelzimmer festgehalten, bis die Ware "geborgen" ist. Als bei einer von ihnen unerwartet eine schließlich tödliche endende Komplikation auftritt, greifen sich Maria und ihre Freundin überhastet die Tasche mit den Drogen und flüchten. Der englischen Sprache nicht mächtig und mit einem Kilo Heroin im Gepäck, irren die Mädchen durch New York; ihre einzige Anlaufstelle ist die Schwester der Verstorbenen, bei der sie notdürftig unterkommen - ohne ihr vom Unglücksfall zu erzählen.

In der kolumbianischen Immigranten-Gemeinde von Jackson Heights findet der Film sein inneres Zentrum. Er gewährt Einblicke in eine fast beschämend großzügige, kleine Welt, in einen familiären Mikrokosmos im Innern des harschen Melting Pot New York. Die Entscheidung des Regisseurs, in erster Linie mit Laien zu arbeiten, verleiht dem Film darüber hinaus eine sozialrealistische Strenge. Orlando Tobón zum Beispiel, der Don Fernando, den Patron der Nachbarschaft, spielt und im Film von einem kleinen Importbüro aus operiert, betreibt auch im wirklichen Leben einen Laden in New York. Noch das kleinste Detail fühlt sich hier echt an.

Am Ende ist Maria wirklich "full of grace". Die letzte Einstellung zeigt sie auf die Kamera zuschreitend, ihr altes Leben hinter sich lassend. Dann wird sie in einer Zeitlupeneinstellung festgehalten, aber es wirkt nicht die Spur prätentiös. Es scheint, im Gegenteil, die vielleicht einzige Möglichkeit, ihre Energie für einen Moment auf- und festzuhalten. Moreno strahlt in dieser langen Schlussminute eine atemberaubende Selbstsicherheit und Kraft aus. Man wird diesen letzten Blick so schnell nicht vergessen.


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