Die Blicke stur nach vorn

Unsicheres Terrain Eine Roma-Familie, während die Stimmung im Dorf langsam kippt: Bence Fliegaufs „Just the Wind“, bei der Berlinale 2012 ausgezeichnet, startet im Kino
Ausgabe 29/2013

Die Kamera in Bence Fliegaufs Just the Wind ist gleich mal eine Ansage. Mit minimalem Abstand hängt sie an den Fersen der Protagonisten, sodass dem Zuschauer oft nur die Rückenansicht von Mari, Anna und Rió bleibt. Mutter und Kinder laufen vor der Kamera her, doch die Hierarchie, die sich aus dieser Anordnung zu ergeben scheint, ist trügerisch.

Seit den Filmen der Brüder Dardenne beschreibt das Blickregime aus der zweiten Reihe im Weltkino die prekären Verhältnisse an der gesellschaftlichen Peripherie. Das „Push/Pull“-Prinzip dieser erzählerischen Bewegung gehört mittlerweile zu den international akzeptierten Konventionen eines kritischen Betroffenheitsgestus. Die Figuren führen die Kamera gewissermaßen im Schlepptau, gleichzeitig treibt der Betrachter die Menschen unweigerlich vor sich her. In Just the Wind kommt zu dieser Dynamik eine zweite Perspektive hinzu. Denn in den subjektivierten Blick ist auch ein paranoides Unbehagen eingeschlossen: Die Kamera registriert die Hilflosigkeit der Figuren genauso, wie sie deren Umgebung ruhelos auf Gefahren hin abcheckt.

Just the Wind, bei der Berlinale 2012 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet, folgt Mari, Anna und Rió durch unsicheres Terrain. Als Mitglieder der Roma-Volksgruppe sind sie in Ungarn marginalisiert und nahezu rechtlos. Auf der Straße werden sie von stolzen ungarischen Männern und Frauen feindselig beäugt, darum richten sich ihre Blicke meist stur nach vorne. Diese Zielstrebigkeit als Konsequenz ihrer befangenen Anteilnahme löst sich im Film in einer überraschend offenen Form der Erzählung auf. Er beginnt mit der Dämmerung und endet in der Nacht. Die Stunden dazwischen verbringt Fliegauf vor allem mit aufmerksamen Milieubeobachtungen, die jedoch unter einem schlechten Stern stehen. Denn der Tag ist kein gewöhnlicher. Tags zuvor wurde im Ort eine Roma-Familie ermordet. Die Nachricht sickert langsam in den Film ein und manifestiert sich in szenischen Details als latente Bedrohung.

Während im Hintergrund die Roma-Männer eine Bürgerwehr formieren, geht Mutter Mari ihren Niedriglohnjobs nach. Morgens Straßenreinigung, nachmittags putzen. Ressentiments gehören zur Alltagserfahrung der Frau, aber die strukturelle Gewalt nimmt vorerst keine konkreten Züge an. Wieder zu Hause wird sie in ein rätselhaftes Gespräch verwickelt, das ein Bedrohungspotenzial auch innerhalb der Roma-Gemeinde suggeriert.

Einmal nicht Opfer sein

Diese Subjekt/Objekt-Wechselseitigkeit, die schon in der Kamerabewegung angelegt ist, muss auch Anna in der Schule erleben. Als ein Mädchen von einer Gruppe Jungen sexuell missbraucht wird, verdrückt sie sich. Die Erleichterung, einmal nicht Opfer zu sein, überwiegt den Schrecken. Anna ist für ihre Mitschüler praktisch unsichtbar.

Die Tagesabläufe der Kinder veranschaulichen Fliegaufs Interesse. Anna besucht nach der Schule die Verwandtschaft in einer verwahrlosten Waldhütte und nimmt ihre Nichte zu einem Ausflug mit. Diesem kurzen Eskapismus aus den prekären Umständen von Maris Familie stellt der Film die subjektive Bedrohungserfahrung gegenüber: Der etwa zehnjährige Rió hat im Wald einen Bunker zum Schutz seiner Familie eingerichtet. Dass die Stimmung im Dorf langsam kippt, hat er selbst gehört.

In einer zentralen Szene des Films belauscht der Junge zwei Polizisten, die sich über den Mord an der Familie unterhalten. Einer der beiden Männer zeigt Verständnis für die Tat, bedauert jedoch, dass es die falschen „Zigeuner“ erwischt habe. Dieser Moment ist für Fliegauf programmatisch, auch wenn die plakative Inszenierung dem dokumentarischen Gestus des Films strikt zuwiderläuft. Fliegauf muss zum Nachdruck seiner personalisierten Geschichte, die auf einer wahren Mordserie 2008 und 2009 beruht, unbedingt noch die „offizielle“ Sichtweise unterbringen, damit das Gesellschaftspanorama vollständig ist.

Die eigentlichen Stärken des Films sind subtiler. Er hat die besten Momente, wo er die Ausschlussmechanismen mit kleinen solidarischen Gesten außer Kraft zu setzen vermag. Wenn Maris Vorgesetzte bei der Reinigung ihr heimlich eine Tüte mit Lebensmitteln in die Hand drückt. Oder wenn das Goth-Mädchen aus der Schule Anna als Dank für eine Zeichnung liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht.

"Just the Wind" läuft ab 18. Juli im Kino

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