Die Vereinigten Stätten

Topografie Micah Magees Film „Petting Zoo“ ist nur ein Beispiel für das Interesse des aktuellen US-Indiekinos an lokaler Ortsvermessung
Ausgabe 20/2016

Eine unbeschwerte Jugend sieht anders aus. Nach der Schule arbeitet die 16-jährige Layla im Callcenter, abends kehrt sie in die versiffte Wohnung ihres Freunds Danny zurück, weil sie es bei den Eltern nicht mehr aushält. Die Wohnung ist eine Kifferhöhle, in der Dannys Kumpel abhängen und Musik hören. Bevor sie ins Bett geht, wäscht Layla schweigend das dreckige Geschirr ab, das sich in der Küche stapelt. Das Mädchen wirkt hier so fehl am Platz wie in den Niedriglohnjobs, die sie in Micah Magees Spielfilmdebüt Petting Zoo bestreiten muss, um über die Runden zu kommen.

Doch wenn Layla über eins nicht verfügt, dann sind es Handlungsoptionen. Moralischen Rückhalt erhält sie nur von der Großmutter, die aber noch ihren Sohn und dessen Ehefrau aushalten muss, während sie sich um ihre zwei anderen Enkel kümmert.Genau wird diese Familienkonstellation, in der die Eltern Laylas bloß als Statisten vorkommen, nie erklärt. Magee, die an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) studiert hat, belässt es in vielen Szenen bei Andeutungen. Manche Schnitte sind so lapidar gesetzt, dass Petting Zoo stellenweise an eine szenische Anordnung erinnert, die sich jeder Dramaturgie entzieht. Verbindlich sind eigentlich nur die Close-ups auf das Gesicht von Newcomerin Devon Keller, in dem auf hinreißende Weise alles – Mund, Nase, Augen – eine Spur zu groß geraten scheint. Ein schüchterner, aufgeweckter Teenager, der seine gesellschaftliche Rolle noch nicht versteht, obwohl er ständig deren Beschränkungen erfährt.

Naturalismus ist Programm

Keller ist als Darstellerin unverdorben, sie kann ihre Unruhe und Unsicherheit kaum überspielen. Muss sie auch nicht; dieser Naturalismus ist das Programm von Petting Zoo. Die Bilder von Kameramann Armin Dierolf sind beiläufig gefilmt, ohne willkürlich zu wirken oder eine dokumentarische Haltung vorzutäuschen. Vor allem aber sollen sie für nichts einstehen. Die Montage stellt keine Kausalitäten her, erzeugt keine strenge Chronologie. Sie bildet bloß eine Folge von Eindrücken und Reaktionen ab, immer wieder Reaktionen: vom Leben herumgestoßen. Aber irgendwie muss es ja weitergehen, Einstellung auf Einstellung.

Die Nachricht, dass Layla ein Stipendium für die Universität erhält, erscheint für einen Moment als die Antwort auf alle Fragen, die in Petting Zoo unausgesprochen bleiben. Doch die Hiobsbotschaft folgt umgehend. Layla erfährt, dass sie schwanger ist, und da die Eltern, die sich zur Entscheidungsverkündung kurz blicken lassen, einer Abtreibung nicht zustimmen, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich mit den Umständen zu arrangieren. Als auch noch die Großmutter bei einem Unfall stirbt, verliert Layla ihre einzige Verbündete.

Soziale Zusammenhänge erschließt Petting Zoo ohnehin nicht über einen Gemeinsinn, sondern durch die Bewegungen seiner Hauptfigur. Laylas Leben spielt sich im überschaubaren Terrain zwischen Schule, Job, Krankenhaus, Bars, Einkaufszentrum und ihren Übernachtungsmöglichkeiten ab. Die Wege, die sie dazwischen zurücklegt, vervollständigen ein Bild vom gegenwärtigen Amerika, das aufgrund seiner Gewöhnlichkeit – zersiedelt, unbewohnbar, heruntergekommen, eine Kleinstadt ohne Zentrum – einen ziemlich desolaten Eindruck macht.

Die Regisseurin entwirft mit ihrem Film also eine Art Sozialtopografie. Diese Qualität ist im aktuellen US-Independentkino kein Alleinstellungsmerkmal, im Gegenteil zeichnet die Aufmerksamkeit für lokale und regionale Spezifika und die sozialen Strukturen urbaner Räume abseits der Metropolen die aktuell interessanteren Filmemacherinnen und Filmemacher im US-Kino aus. Dabei werden diese Orte nicht immer so dezidiert gesellschaftlich verhandelt wie in Petting Zoo.

Alex Ross Perry etwa beweist in seinem Film Queen of Earth (Anfang Mai hierzulande gestartet) ein anderes Raumgefühl als Magee. In dem Psychodrama über ein gemeinsames Wochenende zweier Freundinnen, die sich voneinander entfremdet haben, inszeniert er den Handlungsort, einen einsamen Waldsee, als mythische Landschaft, deren motivische Konkretion sich eher vom Genre (dem Horrorfilm) herleitet. Wie Magee arbeitet Ross Perry mit auffallend vielen elliptischen Montagen, allerdings ist die Absicht eindeutig psychologischer. Es geht in Queen of Earth um (zwischenmenschliche) Irritationen.

Auf dem Smartphone gefilmt

An Psychologie ist Magee überhaupt nicht interessiert. Formal und inhaltlich könnten Petting Zoo und Queen of Earth kaum unterschiedlicher ausfallen, und doch zieht sich das Gespür für die soziale Konnotation von Orten seit einigen Jahren wie ein roter Faden durch das US-Independentkino. Im Juli kommt mit Tangerine von Sean S. Baker ein Film in die deutschen Kinos, der – gefilmt auf einem Smartphone – die Aneignung von sozialen Räumen am Beispiel des Milieus von Strichern und Transsexuellen in Los Angeles zeigt. Das wurde im amerikanischen Unterhaltungskino bislang weitgehend ignoriert.

Micah Magee hat noch einmal ein differenzierteres Verständnis von sozialem Kino, als lediglich andere Lebenswirklichkeiten als die im Mainstream gängigen abzubilden. Das verbindet Petting Zoo mit den Filmen Matthew Porterfields (I Used to Be Darker), Kelly Reichardts (Wendy and Lucy) und Debra Graniks (Winter’s Bone). Im Presseheft erklärt Magee, dass man durch Genauigkeit in der Beschreibung von lokalen Eigenarten zu einer allgemeingültige Auskunft finden könne. Was verraten die leeren Gewerbeflächen, die endlosen Felder, die Motelparkplätze, auf die Layla durch die Windschutzscheibe blickt, also über Amerika? Petting Zoo führt seine Bilder nicht wie zur Beweisführung an (es handelt sich eben nicht um symbolische Landschaften), aber er macht auch wenig Hoffnung, dass Laylas Generation eine bessere Zukunft bevorsteht.

Info

Petting Zoo Micah Magee Deutschland/USA/Griechenland 2015, 93 Minuten

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