Der Begriff anger management – unter amerikanischen Richtern eine populäre disziplinarische Maßnahme, um schlecht gelaunte Supermodels oder zu gewalttätigen Ausfällen neigende Profisportler zur Räson zu bringen – wird in Alles steht Kopf, der fünfzehnten Pixar-Produktion, wortwörtlich interpretiert. Wut, personifiziert von einem roten Aggrowürfel im casual business outfit, sitzt in Pete Docters drittem Film für das Animationsstudio (nach Monster AG und Oben) tatsächlich an den Schalthebeln.
Zusammen mit seinem Team, bestehend aus Freude, Ekel, Kummer und Angst, ist Wut dafür verantwortlich, die schwankenden Gemütszustände des Mädchens Riley zu kontrollieren. Wobei jedoch nie ganz klar wird, ob hier wirklich das psychedelisch kolorierte Gefühlspersonal in Rileys allegorischem Hauptquartier, das an die Brücke der Enterprise erinnert, das Kommando hat oder die Emo-Arbeiter selbst nur Erfüllungsgehilfen einer höheren neuronalen Instanz sind. Mit der Verortung der Gefühle ist das ontologisch ja so eine Sache. Aber philosophische Überlegungen über die Existenz des freien Willens werden bei Pixar und dem Mutterkonzern Disney ohnehin zweitrangig behandelt. Natürlich geht es hier um etwas ganz anderes.
Selbst für Pixar-Verhältnisse ist Alles steht Kopf bemerkenswert smart, weil der Film sehr prinzipiell und im wahrsten Sinne des Wortes bewusstseinserweiternd durchexerziert, worum sich das Kerngeschäft Pixars (und mehr noch das von Disney) im Wesentlichen dreht: die Produktion von Gefühlen in allen möglichen Farben, Formen und Gestalten.
Docter hat die Gefühlswelt Rileys sehr praktisch konzipiert, sozusagen mit kindlicher Intuition: Da produziert jede emotionale Erfahrung eine Kugel, in der die Erinnerung als kleines Home Movie abgespeichert ist und die am Ende des Tages in einer Art Asservatenkammer eingelagert wird. Formative Erlebnisse bringen eine „Kern-Erinnerung“ hervor, die die vier „Persönlichkeitsinseln“ Rileys speisen (Familie, Freundschaft, Eishockey, Herumalbern) – schwebende Plattformen über dem schwarzen Abgrund des Vergessens, in dem verblasste Erinnerung zu Kohlenstaub zerfällt. Auf der Kommandobrücke dieser fantastischen mindscape sorgen Freude, Wut, Kummer, Angst und Ekel – die Gefühlswelt im Hause Disney ist überschaubar, aber es handelt sich um einen Kinderfilm – für einen geregelten Ablauf der Adoleszenz.
Pubertät als Katastrophenfilm
Die zwanghaft optimistische Freude, deren innerliches Leuchten einen schönen visuellen Kontrast zu ihrer blau schimmernden Bobfrisur setzt, hat alle Hände voll zu tun, damit die cholerische Wut, die sich unter Stress schon mal in einen Flammenwerfer verwandelt, oder der dauerdepressive Kummer in Rileys Gefühlshaushalt nicht die Oberhand gewinnen. Das geht zumindest so lange gut, wie die Kleine noch in die Windeln macht oder mit dem alten „Flugzeug“-Trick zum Broccoli-Essen überlistet werden kann.
Als die Eltern jedoch von Minnesota nach San Francisco ziehen, erlebt die elfjährige Riley, pünktlich zur einsetzenden Pubertät, ihre erste Krise. Die halbherzigen erzieherischen Maßnahmen der Eltern ziehen nicht mehr, wie ein kurzer Exkurs in die Kommandozentrale des Vaters zeigt. Da sitzen seine abgestumpften Gefühle während einer Moralpredigt seiner Frau geistesabwesend vor dem Fernseher. In Rileys Gefühlswelt herrscht dagegen Ausnahmezustand. Bei einem Routinemanöver werden Freude und Kummer mitsamt „Kern-Erinnerungen“ in den Orbit von Rileys Bewusstsein geblasen. Während das hinter dem Kommandopult verbliebene Gefühlspersonal kontraproduktiv das Mädchen bei Laune zu halten versucht, müssen Freude und Kummer – zusammen mit einem imaginären Freund aus Rileys Kindheit („halb Zuckerwatte, halb Elefant“) – zurück ins Hauptquartier finden. Viel Zeit haben sie nicht: Ohne „Kern-Erinnerungen“ kollabieren die „Persönlichkeitsinseln“ wie leckgeschlagene Weltraumstationen. Die Pubertät als Katastrophenfilm – gemäß der modernen Blockbuster-Logik gerät auch bei Pixar das world building zur Zerstörungsorgie. Das aber wenigstens gefühlsecht.
Zielgruppentechnisch hat man bei Pixar mit Alles steht Kopf ein Höchstmaß an Selbstreflexivität, Meta-Erzählung und Crossover-Tauglichkeit (die Kinder ins Kino kriegen und die Eltern bei Laune halten) erreicht. Die Phantasmagorien sind stellenweise so theoriegesättigt, dass den Kleinen kaum etwas anderes übrig bleiben wird, als sich an Farben und Formen zu erfreuen. Rileys Traumwelt entpuppt sich als Filmset (das von einem Kindheitsalbtraum aus dem Unterbewusstsein des Mädchens zerlegt wird), die Zwischenwelt der „abstrakten Gedanken“ verwandelt die Reisenden in zweidimensionale Figuren, die den hochgerüsteten Animationsfilm vorübergehend in die Frühzeit des Kinos zurückversetzen.
Medienpädagogisch ist diese Form der Psychokartografie sicherlich wertvoll. Es könnte aber auch sein, dass Alles steht Kopf, wie jede Reise ins Unbewusste, unter den Jüngsten für Verstörungen sorgen wird. Trotz Zuckerwatte-Elefanten und fettige Pommeswälder.
Info
Alles steht Kopf Pete Docter USA 2015, 95 Min.
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