ICE Sprinter

Kino Bong Joon-hos Film „Snowpiercer“ bildet die Welt als Klassengesellschaft in einem nie anhaltenden Zug ab
Ausgabe 14/2014
Tilda Swinton als misanthropische Ministerin
Tilda Swinton als misanthropische Ministerin

Foto: Screenshot, Youtube

Der „Snowpiercer“ macht seinem Namen alle Ehre. Unaufhaltsam arbeitet sich der Hochgeschwindigkeitszug durch den Permafrost einer ausgestorbenen Zivilisation – halb Dampframme, halb Arche Noah. An Bord: Die Reste der Menschheit, Überlebende eines fehlgeschlagenen Klimaexperiments, das die Erde mit einer zweiten Eiszeit überzogen hat. Die prägende Herrschaftsform der Menschheitsgeschichte wurde mitkonserviert: nicht top-down, wie in Science-Fiction-Dystopien üblich, sondern front-bottom. Bong Joon-hos Spielfilm Snowpiercer kippt die Gesellschaftspyramide aus Fritz Langs Metropolis in die Horizontale.

Am Ende des Zuges, dieses inspirierten Gesellschaftsentwurfs, hausen die „Ungewaschenen“. Schikaniert von einer sogenannten Ministerin (Tilda Swinton als hässliche, zur Misogynie neigende Thatcher-Karikatur) und deren Privatarmee, der Kinder beraubt und abgefüttert mit glibberigen Proteinblöcken, warten die Entrechteten auf ein Zeichen ihres gebrechlichen Anführers Gilliam (John Hurt gewissermaßen als John Hurt). Der hat das Kommando längst an einen Jüngeren abgegeben. Curtis (Chris „Captain America“ Evans) plant zusammen mit einem Trupp Freiwilliger einen Ausbruch in die vorderen Abteile, wo die herrschende Klasse in einer dekadenten Kunstwelt zwischen Schöner Wohnen 2030, Studio 54 und Versailles lebt.

Bongs Film macht kaum mehr, als sich Schritt für Schritt durch dieses reiche Szenario zu arbeiten und dabei immer bizarrere Details offenzulegen. Wechselhaft wie die liebevoll ausstaffierten Lebenswelten der Mächtigen – hübsch kompartmentalisiert nach den jeweiligen Luxusbedürfnissen (ein psychedelisches Aquarium-Abteil dient allein dem Sushi-Konsum) – ist auch der Ton, den Bong dabei anschlägt. Hochgradig absurde Szenen wie der Mexican standoff im Schulwaggon, wo die privilegierten Kinder mit dem Personenkult um den Snowpiercer-Ingenieur Wilford und seine „Heilige Maschine“ von einer irre grinsenden Lehrerin indoktriniert werden, wechseln sich relativ unmoderiert mit ansehnlichen Gewaltexzessen ab.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Niemand sollte von Snowpiercer, der auf einer französischen Graphic Novel basiert, eine profunde Gesellschaftskritik erwarten. Dafür bleibt die Inszenierung Bongs zu sehr dem Genre treu – während Jacques Lob, der Autor der Vorlage, den Snowpiercer ursprünglich als Metapher für die Todeszüge in die Konzentrationslager konzipiert hatte.

Der Film ist produktionstechnisch dennoch eine kleine Sensation, vielleicht sogar die Lösung für die allseits proklamierte Krise der US-Filmindustrie: Eine seltsam robuste Chimäre aus Blockbusterkino und Arthousefilm, mit internationaler Finanzierung und Besetzung – neben den Genannten stehen etwa der koreanische Superstar Song Kang-ho als drogenabhängiger Schlüsselmeister und das rumänische Schwergewicht Vlad Ivanov als unkaputtbarer sadistischer Abräumer vor der Kamera. Eine Alternative zum globalisierten Unterhaltungskino aus den US-amerikanischen Großstudios.

Nicht zu vergessen der Filmmogul klassischer Statur, Harvey Weinstein, der dem interessanten Experiment in letzter Sekunde in die Parade fahren wollte, weil er die Ambitionen seines Regisseurs für unvermittelbar hielt. In Deutschland kommt Snowpiercer nach erbitterten Auseinandersetzungen in der ursprünglichen Länge von 124 Minuten in die Kinos, was Bongs von linearer Erzählökonomie befreiter Inszenierung zugute kommt. So gesehen könnte der Eisbär am Ende (Knut!) als Geste an die von komplexer Gesellschaftskritik nicht erreichbaren Publikumsschichten zu verstehen sein. Snowpiercer beschreibt ein totalitäres System, das sich aus den Widerstandsbewegungen heraus erneuert. Wenn das mal keine Aktualität besitzt.

Snowpiecer, Bong Joon-ho, Südkorea/US/F/CZ 2013, 124 Minuten

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