Was wäre wenn ...

Im Kino "Eine unbequeme Wahrheit" dokumentiert Al Gores Einsatz für den Klimaschutz und ist damit der erste Hollywoodfilm, der auf einer populärwissenschaftlichen Vortragsreihe basiert

Nicht nur die Polkappen schmelzen in Davis Guggenheims Dokumentation Eine unbequeme Wahrheit. Auch Al Gore ist merklich aufgetaut, vergleicht man seine Performance mit den öffentlichen Auftritten, die er noch vor einigen Jahren hingelegt hat. Begeisterungsstürme hat Gore wahrlich nie ausgelöst. Wenn er nun aber in Eine unbequeme Wahrheit vor Menschen tritt, wird er von seinem Publikum empfangen wie ein Rockstar. Die stehenden Ovationen bremst Gore mit Galgenhumor aus. "Guten Tag, ich bin der ehemalige zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten." Ein kurzes Grinsen. "Was, sie finden das witzig?"

Gores öffentliches Image war nicht immer so schmeichelhaft. Charme und Selbstironie gehörten nicht zu den Eigenschaften, für die "Mr. Freeze", wie die Washingtoner Hofberichterstatter ihn einst nannten, während seiner Jahre in der Clinton-Administration gerühmt wurde. Eine unbequeme Wahrheit zeigt nun ein dezidiert anderes Bild des ehemaligen amerikanischen Vize-Präsidenten: souverän, wortgewandt und manchmal auch etwas linkisch gibt Gore den jet-settenden Partisanen auf seinem Feldzug gegen die drohende Klimakatastrophe.

Seit 1989 reist Gore mit seiner, wie er es nennt, Diashow um die Welt, um die Menschheit über die Ursachen des Klimawandels aufzuklären. Über tausend Mal hat er seinen Vortrag inzwischen gehalten. Die Idee, Gores Multimedia-Vortrag auf die Leinwand zu bringen, stammte ursprünglich von Seinfeld-Erfinder Larry David und Pulp Fiction-Produzent Lawrence Bender. Damit ist Eine unbequeme Wahrheit der erste "Powerpoint-Film" der Filmgeschichte. Der erste Hollywoodfilm auch, der - im Gegensatz zu einem Roman, einem Videospiel oder einer Achterbahnfahrt - auf einer populärwissenschaftlichen Vortragsreihe basiert. Diese Tatsache allein jedoch macht Eine unbequeme Wahrheit noch nicht bemerkenswert. Viel interessanter ist, wie Regisseur Guggenheim sich ganz nebenbei bemüht, am Image des immer etwas steif wirkenden Gore zu feilen. Eine unbequeme Wahrheit ist nicht nur ein mächtiges Plädoyer für den Klimaschutz, sondern, fast zwangsläufig, auch ein ebenso nachhaltiges für Al Gore. Alles im Namen einer guten Sache, versteht sich.

Man ist als Zuschauer leicht geneigt, dieser grandiosen Selbstinszenierung, die bisweilen völlig hinter ihrer eigenen Inszeniertheit verschwindet, auf den Leim zu gehen. Wie in jeder politischen Inszenierung verschwimmt auch in Eine unbequeme Wahrheit die Grenze zwischen dem Performer und dem Menschen. Die privatistischen Innenansichten, die Gore zwischen langen Vortragssequenzen im nachdenklichen Tonfall zum Besten gibt, verschränken das Politische mit dem Persönlichen, und genau hier begibt sich Eine unbequeme Wahrheit auf eine riskante Gratwanderung, die Guggenheim und Gore meistern müssen. Denn obwohl es in Eine unbequeme Wahrheit nicht in erster Linie um Gore geht, liefert seine Person doch den direktesten Zugang zum Thema des Films. Die Frage, wie so ein Mensch, der dreißig Jahre seines Lebens - lässt man einmal für einen Augenblick alle möglichen politischen Vorbehalte außer Acht - in den Dienst des Klimaschutzes gestellt hat, eigentlich tickt, wird zum rhetorischen Knackpunkt des Films. Formal ist Eine unbequeme Wahrheit ein relativ gradliniges, und in damit in seiner didaktischen Strenge auch erfrischend altmodisches Stück Aufklärungskino. Eine Herausforderung stellt der Film insofern dar, als er versucht, wissenschaftliche Fakten über eben jene politischen Vorbehalte hinaus vermitteln zu wollen. Das immerhin ist ein Problem, das einen Michael Moore zum Beispiel noch nie interessiert hat.

Gore versucht, dieses Dilemma rhetorisch in den Griff zu kriegen. Er argumentiert in Eine unbequeme Wahrheit, dass die Bekämpfung des Klimawandels keine politische Verantwortung, sondern in erster Linie eine moralische Verpflichtung sei. In diesem Spannungsfeld zwischen dem Politischen und Moralischen verfängt sich mitunter auch Guggenheims Film. Für die Kamera erzählt Gore einmal, wie der Lungenkrebs seiner Schwester seine Eltern, die selbst eine Tabakfarm bewirtschafteten, dazu zwang, ihr Handeln und ihre persönliche Verantwortung zu überdenken. Während seines Vortrags führt er dann eine Grafik vor, die demonstriert, dass jeder Einzelne dazu beitragen kann, die CO2-Pro-Kopf-Produktion in Amerika zu verringern. Dem Mangel an politischen Willen, so Gore, kann nur mit individuellem Engagement getrotzt werden. Mit politischen Seitenhieben hält er sich geflissentlich zurück.

Dass diese Argumentation jedoch nicht hundertprozentig überzeugen kann, lässt sich schon in Gores politischer Biographie ablesen. Und auch Guggenheim kommt nicht umhin, noch einmal das Wahldebakel von 2000 ins Gedächtnis zu rufen. Eine unbequeme Wahrheit legt letztlich den Schluss nahe, dass die "gestohlene" Wahl für Gore ein traumatisches Schlüsselerlebnis darstellte, das auch den moralischen Menschen Al Gore nachhaltig geprägt hat. Im Film spricht er einmal kurz von seiner Frustration in den Monaten nach der Wahl; kurz darauf begann Gore wieder, sich verstärkt seinen Vorträgen zu widmen. Schon in diesen wenigen Sätzen offenbart die Frage der moralischen Verpflichtung auch ein fundamentales politisches Problem. Wenn es noch eines weiteren Belegs bedarf, dass der Klimawandel unbedingt als Politikum verstanden werden muss, dann findet sich dieser in den Ereignissen des Novembers 2000.

So bekommt die Beharrlichkeit, mit der Gore auf seine Position insistiert, fast etwas Psychopathologisches. Die gestohlene Präsidentschaft mag eine Demütigung Amerikas gewesen sein. Der Rückschlag für die amerikanische Umweltpolitik aber war zweifellos Gores persönliche Niederlage. Spätestens hier wird Eine unbequeme Wahrheit, entgegen allen Verlautbarungen, zur politischen Tragödie. Denn Guggenheims Bilder implizieren nicht zuletzt die Frage, und sie drängt sich geradezu auf, wie Amerikas Umweltbilanz heute aussehen würde, wäre Gores Wahlsieg vor sechs Jahren vom Obersten Gerichtshof anerkannt worden.


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