Wo die Fußballanalyse zur Hochform aufläuft

Medientagebuch Da die Sportberichterstattung der Fernsehsender hierzulande ernsthafte Fußballfans unterfordert, werden diese selbst immer stärker journalistisch aktiv
Dass es beim Fussball insbesondere um Taktik geht, hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen vergessen
Dass es beim Fussball insbesondere um Taktik geht, hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen vergessen

Foto: JacobEnos

Als ernsthafter Fußballfan fühlt man sich vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit seinem vorgeblichen Bildungsauftrag heute beinah sträflich unterfordert. Dabei sollte inzwischen bis in die Fernsehredaktionen durchgedrungen sein, dass Fußball kein Sport mehr ist, bei dem 22 Männer in kurzen Hosen gegen einen Ball treten und am Ende immer Deutschland gewinnt, sondern ein Sport, der von seinen taktischen Anlagen her komplexeren Aktivitäten wie dem Baseball oder auch Schach immer mehr ähnelt. Doch den theoretischen Grundlagen des Spiels wird in der medialen Berichterstattung weiterhin kaum Bedeutung beigemessen. Bei den Öffentlich-Rechtlichen hat man dafür Katrin Müller-Hohenstein und Oliver Kahn zu ertragen, wie sie sich von Allgemeinplatz zu Binsenweisheit hangeln und schlimmstenfalls noch einen „inneren Reichsparteitag“ ausrufen.

Im Fernsehen befindet sich das ­Reden und Denken über Fußball in ­einer anhaltenden Krise. Man freut sich über den Tiki-Taka-Fußball der Spanier, ohne dieses Kunstwerk jemals einer ­genaueren Analyse unterzogen zu ­haben. In der ZDF-Mediathek findet sich ein schöner Clip aus dem Jahr 1998: „Ralf Rangnick erklärt die Viererkette“. Da führte der damalige Trainer des SSV Ulm einem Millionen- Pub­likum an einer Magnettafel sein taktisches Verständnis von modernem ­Fußball vor. Das „Modell Rangnick“ fand, abgesehen vom kurzen Engagement Jürgen Klopps beim ZDF, keine Nachfolger.

Boomende "Taktik-Blogs"

Heute fühlt man sich als runduminformierter Bundesligagucker noch am Besten beim Spartensender Sport 1 aufgehoben, mit dem man sich notfalls von Freitagabend bis Montagnacht seine Wochenendroutinen um die schönste Nebensache der Welt herum organisieren kann. Wöchentlicher Höhepunkt ist am Montagabend die Spieltag-Analyse mit Thomas Helmer und Thomas Strunz, wo schon auch Spielzüge und taktische Aufstellungen ohne verbale Schaumschlägerei fein säuberlich aufgedröselt werden. Unter Taktikfans gilt der Satz „Lass uns nochmal ins Analyse-Tool gehen“ inzwischen zu Recht als geflügeltes Wort.

Wer sich allerdings ernsthaft über die Entwicklungen im modernen Fußball interessiert, ist mit einem Blick ins Internet gut beraten. Hier war in den vergangenen Jahren ein regelrechter Boom von „Taktik-Blogs“ zu beobachten: Hobbytrainer und Freizeitjournalisten, die einen nicht unmaßgeblichen Teil besagter Freizeit damit verbringen, elaborierte Spielberichte inklusive umfassender Taktikanalysen zu verfassen. Die Sprache dieser Blogs ist schnörkellos und klar verständlich, die Tiefgründigkeit der Analysen erstaunlich und stellenweise auch pedantisch. Dabei gehen die Analysen weit über die üblichen Erklärungen von Spielsystemen wie 4-2-3-1 oder 4-1-4-1 hinaus, die Autoren gehen auch auf Taktikänderungen und die flexiblen Rollen einzelner Spieler in der Formation ein.

Als die Mutter aller Taktik-Blogs gilt die Webseite zonalmarking.net des britischen Fußballexperten Michael Cox. Unter den deutschen Blogs ist spielverlagerung.de die mit Abstand umfassendste und bestinformierte Informationsquelle im Netz. Natürlich ist der Boom der Taktik-Blogs auch eine Konsequenz der zunehmenden Kommerzialisierung des Sports. Immer mehr Kameras mit ausgefeilterer Technik bei immer mehr Spielen ermöglichen auch Fans ohne journa­listischen Zugriff die Chance, von zuhause aus das Spielgeschehen zu kommentieren.

Andreas Busche ist Filmkritiker des Freitag und wird in der kommenden Zeitungsausgabe anlässlich des 30. Todestages über Rainer Werner Fassbinder schreiben

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