Als die Titanic zu sinken drohte, gab es weniger Plätze in Rettungsbooten als Passagiere und Mannschaft an Bord: So wie heute in der Corona-Krise die Krankenhausbetten mit Beatmungsgerät knapp sind. Dennoch haben sich die Menschen damals nicht kopflos verhalten. Augenzeugenberichte und statistische Analysen der Passagierliste geben uns heute ein genaues Bild der Katastrophe. Die meisten Menschen hielten sich an soziale Normen, insbesondere an die Norm „Frauen und Kinder zuerst!“. Frauen hatten eine drei Mal höhere Überlebenschance als Männer; von den Frauen der ersten Klasse überlebten 97 Prozent.
Die Befolgung der Norm ist angesichts einer tödlichen Bedrohung gewiss nicht selbstverständlich und auch nicht charakteristisch für alle Katastrophen. Es gab dafür vor allem einen Grund: Durch Anordnungen des Kapitäns gelang es sehr rasch, eine soziale Ordnung zu etablieren. Die Mannschaft exekutierte die Ordnung und die Passagiere hielten sich trotz der immer stärker sichtbaren Lebensgefahr daran.
Der Mensch ist eine kooperative Spezies
In der Corona-Pandemie hat es seit Kriegszeiten noch nie so starke Eingriffe in unser soziales Leben gegeben. Man kann kritisieren, dass Maßnahmen zu spät kamen, nicht genügend für Tests und Schutzausrüstung vorgesorgt wurde, aber klar ist auch: Trotz anfänglicher Unsicherheiten über geeignete Maßnahmen und einiger föderaler Verwirrungen gibt es seither ein relativ entschlossenes Krisenmanagement der Regierung. Diese Eingriffe und Freiheitsbeschränkungen erfahren (noch) hohe Legitimität und vor allem halten sich die allermeisten Menschen an die Regeln der sozialen Distanzierung. Der Mensch ist eine „kooperative Spezies“, schreibt der Spieltheoretiker Herbert Gintis. Doch müssen geeignete Bedingungen für menschliche Kooperation auch vorliegen. Zudem trifft die Krise nicht alle gleich. Denn wer mit kleinen Kindern in einer bescheidenen Mietwohnung ausharren muss, hat es zweifellos schwerer als wohlhabende Bewohner von Einfamilienhäusern mit Gartengrundstücken. Das Virus ist nicht demokratisch!
Jetzt wird an die Lockerung der Regeln gedacht. Die Nationale Akademie der Wissenschaften hat am Ostermontag eine Stellungnahme formuliert, die von einer schrittweisen Öffnung der Schulen über das Aufschalten anonymer Tracking Apps bis hin zur Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln ein breites Spektrum von Maßnahmen empfiehlt. Es könnte sich auch herausstellen, dass es zu früh für eine Öffnung ist. Nicht zu früh ist es hingegen, uns im Maskentragen einzuüben oder digitale Hilfsmittel einzusetzen, solange das Virus noch bedrohlich ist. Das aber wird solange der Fall sein, bis Impfstoffe zur Verfügung stehen oder heilende Medikamente.
Nach wie vor ist Solidarität erforderlich, insbesondere mit alten Menschen und Risikogruppen. Das Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit würde das Risiko reduzieren. Asiatische Länder kennen die soziale Norm, Masken zu tragen; in Europa wird dies eher als peinlich und unangenehm empfunden. Das Maskentragen ist aber eine kleine Freiheitseinschränkung, die größere Freiheiten erst ermöglicht. Natürlich muss dafür eine wesentliche Voraussetzung erfüllt sein: Masken müssen in genügender Zahl erhältlich sein.
Liegt es in unserem Interesse, uns an das Mundschutzgebot zu halten?
Werden sie dann aber auch benutzt? Soziale Normen sind selbststabilisierend, wenn sie im Eigeninteresse befolgt werden. Im Straßenverkehr hält man sich an das Rechtsfahrgebot; eine Bußgelddrohung ist bei sozialen Normen, die Verhalten nur koordinieren, eigentlich überflüssig. Genau umgekehrt verhält es sich bei sozialen Normen, die allgemeine Güter schützen. Das sind sogenannte Kooperationsnormen. Ein Rechtsfahrgebot erzwingt sich selbst, ein Parkverbot nicht. Das Dilemma ist: Bei letzterem liegt es im Eigeninteresse, die Norm nicht zu befolgen. Die Politik der sozialen Distanzierung war auch deshalb erfolgreich, weil Abstand halten zwar dem Fremdschutz, aber gleichzeitig auch dem Eigenschutz dient. Beim Maskentragen könnte es schwieriger werden, der Norm zur Geltung zu verhelfen.
Da das Tragen von einfachen „chirurgischen“ Masken vorwiegend dem Fremdschutz dient, handelt es sich um eine Kooperationsnorm. Daraus ergibt sich das gleiche Problem wie bei einer Masernimpfung. Egoisten sind geschützt, wenn sie selbst nicht kooperieren, alle anderen aber mit der Maske eine Tröpfcheninfektion verhindern. Im Fachjargon ist das Tragen von Schutzmasken ein Kollektivgut; nicht anders als die Pflicht Steuern zu zahlen. Keiner möchte es, aber wenn sich alle als „Trittbrettfahrer“ verhalten, existiert kein kollektives Gut und das Gemeinwesen erodiert. Ähnlich verhält es sich bei „Tracking Apps“. Erst wenn ein größerer Teil der Bevölkerung die App installiert hat, kann mit einem wirksamen Schutz gerechnet werden. Die Apps sollen anonym und freiwillig sein, aber für das Aufschalten von Tracking-Apps könnte man auch positive Anreize vorsehen. Bei der vielbeschworenen Exit-Strategie sind diese beiden Elemente, Schutzmasken und Tracking Apps, wesentliche Bausteine einer vorsichtigen Öffnung; andernfalls riskiert man ein erneutes Aufflammen der Epidemie. Die südostasiatischen Länder Singapur, Taiwan, Südkorea und auch China haben es erfolgreich vorexerziert.
Wie erreicht man bei uns, dass die Menschen in großer Zahl der Kooperationsnorm Folge leisten, Masken zu tragen? Nicht alles lässt sich überwachen und nicht jede Übertretung lässt sich durch Bußgeld sanktionieren. Die Prohibition in den Vereinigten Staaten der zwanziger Jahre war bekanntlich ein eklatanter Misserfolg normativer Erzwingung. In der Sozialpsychologie kennt man Robert Cialdinis Theorie deskriptiver Normen. Wenn soziale Normen in der Bevölkerung als legitim gelten, wenn die Befolgung sichtbar und sozial kontrollierbar ist und wenn eine kritische Masse erreicht ist, stehen die Chancen gut für einen Prozess „kollektiven Lernens“.
Die überwiegende Mehrheit verhält sich prosozial; das hat auch der Erfolg der Politik der sozialen Distanzierung gezeigt. Hinzu kommt, was Ökonomen einen „selektiven Anreiz“ bei der Herstellung von Kollektivgütern nennen. Denn etwas Schutz bietet die Maske wohl auch dem Träger. Wenige Uneinsichtige wird es allerdings immer geben. Wenn es zu einer sozialen Öffnung kommt, sollte man Kooperationsnormen, die ein so wichtiges Gut wie die Gesundheit der Mitmenschen schützen, zur Pflicht machen. Eben ein Vermummungsgebot. Aber nicht nur in öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern überall dort, wo Menschen in geringer Distanz in der Öffentlichkeit zusammenkommen. Das sollten wir von asiatischen Ländern lernen.
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