Demoskopie: Vernebelte Glaskugel

Umfragen Wahlumfragen haben ein verheimlichtes Genauigkeitsproblem. Ein Plädoyer für mehr Transparenz
Ausgabe 36/2021
Umfragen sind nur selten wirklich verlässlich
Umfragen sind nur selten wirklich verlässlich

Foto: Sebastian Kahnert/Picture Alliance/dpa

SPD im Aufwind, CDU verliert an Boden? Kurz vor der Wahl alarmieren Umfragen wieder einmal Politik und Wahlvolk. Gewiss sprechen solche Zahlen für etwas. Doch sollte die Kirche im Dorf bleiben: Anteilswerte sind in Umfragen mit freiwilliger Teilnahme fast nie verlässlich zu ermitteln. Und auch auf die angegebenen Unsicherheitsbereiche ist kaum Verlass.

Zwar lässt sich in Methoden-Berichten der Wahlforschung Kleingedrucktes zu den Prozenten lesen. Doch eine Schlüsselfrage bleibt offen: Wie groß ist der Anteil der Personen in einer Stichprobe, die tatsächlich ein Interview beantworten? Diese „Ausschöpfungsquote“ wird heute von allen Instituten unter Verschluss gehalten. Das renommierte US-Institut Pew berichtet für 2018 einen drastischen Rückgang dieser Quote auf nur noch sechs Prozent. Und auch hierzulande dürften weit mehr als 90 Prozent der ausgelosten Personen einer Stichprobe dann nicht an den Befragungen teilnehmen.

Die Fehlprognose bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ging – so ein Kommissionsbericht – unter anderem auf eine geringe Teilnahmequote zurück: Wahlberechtigte mit geringer Bildung neigten zu Trump, antworteten aber seltener auf Interviews. Auch durch Gewichtung können solche Fehler nicht automatisch behoben werden. Hochgewichtung funktioniert nur, wenn Personen mit geringer Bildung in der Stichprobe das gleiche Wahlverhalten aufweisen wie ihre Pendants, die nicht befragt wurden. Allerdings besteht oft nur ein geringer Zusammenhang zwischen Umfragequalität und der Ausschöpfungsquote. Zudem muss man wissen, wie diese Quote berechnet wurde. Unterschiedliche Methoden eröffnen Spielraum für Manipulationen. Fachgesellschaften geben daher exakte Vorgaben für die Berechnung der Ausschöpfung.

Bei einer Umfrage mit einer extrem geringen, einstelligen Quote – heute vor Wahlen realistisch – dürfte aber das Risiko systematischer Verzerrung trotz aller statistischen Gegenmaßnahmen steigen. Auch die Fehlerbereiche werden falsch berechnet, wenn die Annahme einer Zufallsstichprobe nicht mehr haltbar ist. Zuverlässiger bei geringen Ausschöpfungsquoten sind dagegen Analysen von Zusammenhängen, beispielsweise zwischen Bildung, Einkommen und Gesundheitsverhalten. Solche Erkenntnisse sind die eigentliche Domäne wissenschaftlicher Umfragen und unverzichtbar für die Politikberatung.

Werden nun die systematisch verzerrten Daten mehrfach gewichtet, am Ende noch mit der institutseigenen Zauberformel, erhält man eine „Projektion“ der Wählerpräferenzen. Diese besagt, welche Stimmenanteile die Parteien erhielten, wenn die Wahl am nächsten Sonntag stattfände. Liegt dann die Projektion am Wahltag weit daneben, bauen die Institute folgende Verteidigungslinie auf: Es handele sich nur um Momentaufnahmen, Wechselstimmen und Briefwahl hätten die Projektion durchkreuzt. Sie haben damit scheinbar immer recht, denn nie lässt sich diese Hypothese widerlegen. Der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper hätte Freude an einer solchen „Immunisierungsstrategie“.

Der Demoskop Matthias Jung klagte jüngst über „Demoskopen-Bashing“. Er mag Gründe haben. Berechtigt ist aber auch die Frage, was das Geheimnis um die Ausschöpfungsquote soll. Immerhin sind die Rohdaten des Politbarometers einsehbar, anders als bei der Konkurrenz. Umfragen und Wahlforschung sind in Demokratien wichtig. Aber auch mehr Ehrlichkeit, durch die die Wahlforschung nur gewinnen könnte.

Andreas Diekmann ist Seniorprofessor für Soziologie an der Universität Leipzig

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