Jetzt, da sich der Piketty-Hype etwas gelegt hat, das allgemeine Interesse aber noch nicht ganz abgeflaut ist, scheint mir der richtige Augenblick, um diese Debatte in ihren Kontext zu stellen. Und zu zeigen, dass und was es sonst noch gibt am linken Rand des Mainstreams.
Pikettys Capital steht neben den Arbeiten von AutorInnen wie Richard Sennett, Jeremy Rifkin, David Graeber und Ulrike Herrmann für eine Reihe von Sachbüchern, die in den letzten Jahren ein enormes Echo erfahren haben, nicht trotz, sondern weil sie gründlich am herrschenden Konsens nagen. Nicht gründlich genug, werden einige sagen und haben es auch: Es heißt, dass diese Kritik utopisch sei, weil sie am Glauben an die grundsätzliche Reformierbarkeit der Gesellschaftsordnung innerhalb der Strukturen von Kapitalakkumulation und Nationalstaat festhalten. Sehen Sie auch so? Rücken Sie bitte vor bis zum nächsten Absatz. Nein? Tab schließen.
Nun zum Eingemachten: Der Crème de la Crème des Linksradikalismus am Beginn des 21. Jahrhunderts, die alle halbwegs up-to-daten Linken und halbwegs gebildeten Linksliberalen kennen müssen, um nicht als orthodox zu gelten.
1. Akzelerationismus. Beginnen wir mit dem Jüngsten in der Runde, dem Beschleunigismus, der als Denkbewegung vor einem Jahr im Mai 2013 – wie könnte es anders sein – mit dem Manifesto for an Accelerationist Politics Urständ gefeiert hat und um die Jahreswende durch die bundesdeutsche Feuilletons gereicht wurde, nachdem der Merve-Verlag das Who is Who dieser Strömung unter dem Titel "#Akzeleration" versammelbandet hat. Theoretischer Hintergrund ist der Spekulative Realismus, wobei das Verhältnis zu diesem, naja, ein Spannungsverhältnis ist. Der Akzelerationismus verbindet Krisenanalyse mit moderner Technik und will diese für die Konstruktion einer "andere Moderne" zu ihrem Vorteil nutzen. Klingt nach Dietmar Daths Maschinenwinter, ist aber ungeduldiger und in Wikipedia, zumindest der englischsprachigen.
2. Neokommunismus. Etwas älter schon, um genau zu sein: fünf Jahre, dafür aber umso selbstbewusster: "Der Kommunismus ist so stark wie lange nicht mehr." Seit der ersten Konferenz im Zeichen des K-Wortes in London 2009 mit den marxistischen Schwergewichten Slavoj Žižek, Alain Badiou, Terry Eagleton, Antonio Negri, Michael Hardt und Gianni Vattimo hat sich vor allem publizistisch einiges getan. Die Rehabilitierung des Kommunismus als These, Idee oder Frage wird dabei vor allem von AutorInnen aus dem Dunstkreis um Badiou/Žižek (etwa Bruno Bosteels The Actuality of Communism von 2011 oder Jodie Deans The Communist Horizon von 2012) und ihren Verlagen Verso oder Laika betrieben; aber auch Tiqqun, die im Kommenden Aufstand das K-Wort noch vermieden haben, beteiligen sich mit Alles ist gescheitert, es lebe der Kommunismus (2013) an der Debatte, ebenso wie der postoperaistisch inspirierte Martin Birkner mit seinem Lob des Kommunismus 2.0 (2013).
3. Critical Realism. Das last big thing aus der angelsächsischen Welt, nicht zu verwechseln mit dem handzahmen popperschen Kritischen Realismus, ist im Grunde ein altes Ding, geht die Be-Gründungsschrift dieser im weiteren Sinn marxistischen Strömung – Roy Bhaskars A Realist Theory of Science – auf das ferne Jahr 1975 zurück. Seitdem hat sich diese Wissenschaftstheorie in alle Disziplinen vorgearbeitet, wird aber im deutschsprachigen Raum nur vereinzelt rezipiert. Dementsprechend gibt's keinen deutschen Wikipedia-Eintrag (aber einen persischen!), sowie eine gute Übersicht aus Wien, wo derzeit auch die meisten Fans zu sitzen scheinen.
4. Magaziniertes. Wahrlich aufgeblüht ist in den letzten Jahren der Blätterwald linker Magazine, Zeitschriften und Internetseiten, vor allem im angelsächsischen Raum. Der self-made Publizist und Jacobin-Gründer Bhaskar Sunkara war nicht nur in der NYT, er hat es gar bis in die Tiefen der italienischen Repubblica geschafft; andere Formate wie n+1, Roar Mag und Critical Theory haben zwar andere Ansprüche und Schwerpunkte (Literatur, Protestbewegungen, Theorie), gemein ist ihnen allen aber, dass sie sich weniger an ein akademisches Fachpublikum richten, sondern vor allem in die Breite gehen. Und Humor haben. Critical Theory etwa veranstaltete kürzlich ein Championship der am meisten überbewerteten PhilosophInnen: Im Finale setzte sich Noam Chomsky klar gegen Adam Smith durch.
5. Klasse Kino. Neben neuen Strömungen und Magazinen gibt's radikale Gesellschaftskritik verstärkt auch im Kino. Und: aus Hollywood. Der Stellenwert dieser Streifen in der Totalität gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse sein vorerst dahingestellt, wichtig ist für uns nur ihre Funktion als Gesprächsthema linker, chineastisch versierter Tischrunden. Also. Gerade in den Post-2007er-USA scheinen Antikapitalismus und die Klassenfrage so präsent wie selten. Bei Avatar (2009) noch als Softdrink, gibt's jetzt das harte Zeug: Neben Blockbuster wie In Time (2011), Hunger Games (2012), Elysium (2013) und Snowpiercer (2013), dessen Thema "it's the engine, stupid" ist, widmet sich auch das Genrekino stärker den Gestalten am Rande der Gesellschaft.
Soweit, so gut: Nach dieser Tour de force durch die Sahnehäppchen – man könnte auch sagen: Milieus – des modernen Linksradikalismus bleibt nur festzuhalten, dass das Schlagwort-Repertoire von VertreterInnen dieser Gattung neben Diskurs, Identität und Subversion nun auch wieder mit Begriffen wie Kommunismus, Wahrheit und Klassenkampf angereichert werden darf. Schön, oder?
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