Vergesst den Koran!

Islam Wenn einsichtige Islamkritiker die Kultur außen vor lassen, stürzen sie sich auf das Buch: Dabei liegt das Problem woanders

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Vergesst den Koran!

Bild: Robertus Pudyanto/Getty Images

Fakt ist, und das nicht erst seit ISIS, dass wir es heute mit einer neuen Art der Islamauslegung zu tun haben, eine, die nicht nur den religiösen Multikulturalismus und die Ökumene in Frage stellt, sondern auch das Verhältnis zur Politik und ihren Platz in der Kulturabteilung: Die Islamische Wiedergeburt bedarf einer Erklärung; der Islamismus als eine Form religiöser Deutung und politischer Praxis ist eine Realität, die eine Antwort verlangt.

Buchreligion und religiöse Praxis

Prinzipiell haben wir es bei einer Religion mit derselben Inkohärenz und relativen Deutungsoffenheit zu tun, wie wir es von politischen Ideologien kennen. Der Islam ist eine Buchreligion, in dessen Zentrum die Texte des Koran stehen, des Wortes Allahs, die in allen muslimischen Strömungen weitgehend dieselben sind. Bei Sunna, der Sammlungen der überlieferten Handlungsweisen des Propheten Mohammed, und der Sharia, den Methoden der Rechtsschöpfung, ist es mit der Einheitlichkeit vorbei.

Zwischen den zentralen Texten und dem Diskurs der Theologie einerseits und der religiösen Praxis der Gläubigen andererseits vermitteln verschiedenen Organisationen und Institutionen, die zusammen die gebrochenen Deutungslinien der unterschiedlichen Strömungen des Islam ausmachen. Wichtig ist, dass die Alltagspraxis nicht grundsätzlich, jedoch relativ unterschieden werden muss vom wissenssetzenden Diskurs der Theologie.

Begrenzte Deutungsoffenheit

Unterschiede in der Auslegung ergeben sich einerseits durch die Selektion bei Textkorpus und Schwerpunktsetzung, andererseits durch die Kreation von Bedeutung, die schon allein aufgrund der textuellen Inkohärenz und Widersprüchlichkeit sowie der Metaphorik der Sprache nötig ist.

Natürlich sind die Lesarten nicht gänzlich beliebig, da die textuelle Grundlage selbst das Produkt von Deutungskämpfen ist und damit bestimmte Auslegungen näher legt als andere. Hier kommt auch der Entstehungskontext des Islam zum Tragen, der sich maßgeblich in die Textoberfläche eingeschrieben hat: Im Gegensatz zum Christentum, das als subalternes Phänomen entstanden ist und erst 380 nC. zur offiziellen Religion des Römischen Reiches wurde, war Mohammed Clanführer und Feldherr, der bei seinem Tod über die gesamte arabische Halbinsel herrschte.

Das emanzipatorische Potential

Die Marginalität emanzipatorischer Bewegungen, die sich auf den Koran berufen, und der islamischen Befreiungstheologie insgesamt lässt sich aus diesem Umstand jedoch nicht erklären. Sie stehen für eine Position, die zwar textuell nicht auszuschließen ist und etwa von Farid Edsack und anderen (in Stosch/Tatari: Gott und Befreiung, 2012) entwickelt wird, sich jedoch bislang sozial kaum durchzusetzen vermochte. Wichtig ist jedoch, diese Möglichkeit im Blick zu behalten: Die Antikapitalistischen Muslime etwa waren bei den Gezi-Protesten 2013 aktiv. Sie erheben in ihrem Manifest "Widerspruch im Namen des vergebenden und barmherzigen Allahs" und stellen sich sich das Paradies als "eine grenzen- und klassenlose, freie Welt, die im hier und jetzt verwirklichbar ist", vor.

Historisch zeigen sich so durchaus vielfältige Möglichkeiten von toleranter und offener Rechtspolitik, die teilweise weitaus fortschrittlicher waren als die christlich intonierten Gesellschaften Europas. Gerade das Millet-System des Osmanischen Reiches, das den anderen monotheistischen Religionen religiöse Freiheit und politische Autonomie zugestand, kann hier als Beispiel herangezogen werden.

Islamismus und Kapitalismus

Wo die zeitgenössische Kritik religiöser Praxen und fundamentalistischer Gruppen ansetzten muss, ist also weniger die textuelle Ebene vom Islam als Schrift, sondern vielmehr der soziale Kontext der Entstehung von organisierten Deutungslinien und die Frage, warum sich bestimmte fundamentalistische Islamauslegungen sowohl in Abgrenzung zu liberaleren oder sozialen Interpretationen durchsetzen haben können, sowie generell gegen konkurrierende politisch-ideologische Diskurse.

Wallerstein etwa lokalisiert die islamistischen Bewegungen im postkolonialen Kontext des globalen Kapitalismus und versteht sie als doppelte Reaktion: Gegen den Westen, abers auch gegen die stärker nationalistischen oder sozialistischen Bewegungen - Kemalismus, Nasserismus, Baathismus -, die im 20. Jahrhundert an die Macht gekommen sind und für die Religion nur eine geringe oder gar keine Rolle gespielt hat.

Es ist somit zum Einen die Desintegration dieser Ideologien und - wieder einmal - die Schwäche zeitgenössischer emanzipatorischer Bewegungen, zum Anderen die Anziehungskraft der "alternativen Vision" eines religiösen Absolutismus, flankiert vom Versprechen auf politische und soziale Sicherheit, die diese religiösen Gruppen attrativ erscheinen lässt.

Möglichkeit und Gefahren

Es gilt also, von einer prinzipiellen Unvoreingenommenheit der Menschen auszugehen (anstatt von ihrer ethnischen oder kulturellen Determinierung), und die Momente von Deutungskampf und organisatorischer Formierung nachzuzeichnen, durch die eine emanzipatorische Theologie und Bewegung das Territorium verloren hat.

Das heißt auch, den globalisierten Kapitalismus und dessen deterritorialisierende Dynamik in Rechnung zu stellen, ja vorauszusetzen, ohne den diese Wiedergeburt nicht zu Denken ist. Was bedeutet, nicht von der Gefahr islamischer Monarchisten zu schweigen, aber sich auch nicht blindlings auf die Gegenseite im Westen zu schlagen, weil das genau der Hintergrund ist, vor dem sich die islamistischen Bewegungen entwickelt haben.

Das heißt letztlich, den Islamismus als eine konkrete Antwort auf ein soziales Problem in seinen systemischen Kontext zu stellen und eine Position zu behaupten, die jenseits davon die universelle Möglichkeit der Befreiung in Aussicht stellt, aber auch bereit ist, gegen eine reale Gefahr Bündnisse einzugehen und Risiken in Kauf zu nehmen.

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