Die Substanz einer EU-Verfassung sei gerettet, verkünden in Berlin die Vertreter der Parteien-Allianz aus Regierungskoalition und den beiden kleinen wirtschaftsliberalen Parteien und feiern dies als Erfolg der deutschen Präsidentschaft. Und sie haben recht. Aus ihrer Perspektive ist es ein Erfolg, gerade die wirtschaftsliberale "Substanz" der Verfassung war es, die mit den Referenden in Frankreich und den Niederlanden in Frage gestellt wurde.
Im Jahr 2004 hatte der Konvent unter Leitung von Giscard d´Estaing den Entwurf für eine Verfassung vorgelegt, womit bestätigt wurde, dass die Europäischen Verträge längst die Qualität einfacher völkerrechtlicher Abkommen überschritten hatten. Europa befand sich in einem Zustand geteilter Souver
Souveränität - Kompetenzen und Zuständigkeiten waren zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU beinahe gleichgewichtig verteilt, so dass die Union durch eine neue Qualität und Eigenständigkeit geprägt war. Als man begann, an einer Verfassung zu schreiben, wurde damit quasi anerkannt, dass die europäischen Institutionen auf einen Gesellschaftsvertrag gegründet werden mussten. Eine nicht beabsichtigte Folge der Einberufung des Konvents.Beabsichtigt war, einem verfahrenen Prozess, mit dem EU-Entscheidungen an die Realität einer 27-Staaten-Union angepasst werden sollten, neuen Schwung zu verleihen, denn im Jahr 2000 waren die Regierungschefs in Nizza damit gescheitert, sich auf einfachere Verfahrensregeln zu einigen und Einstimmigkeitsprozeduren durch Mehrheitsvoten zu ersetzen. Gemessen an diesem anspruchslosen "technischen" Zielen war der jetzige Gipfel in Brüssel ein Misserfolg. Das neue Abstimmungsverfahren, das eine doppelte Mehrheit verlangt, gilt erst ab 2017. Bis dahin fließt viel Wasser Rhein, Weichsel und Donau hinunter.Der Verfassungskonvent hatte nun allerdings eine eigenständige Dynamik ausgelöst - zwar wurde in Deutschland sein Verfassungsentwurf ohne breite gesellschaftliche und selbst ohne wirkliche parlamentarische Debatte durchgewunken, in anderen EU-Ländern jedoch meinten die Regierungen, dass eine Verfassung vom Volk verabschiedet werden und es folglich Referenden geben müsse. Das Ergebnis ist bekannt: In Frankreich und den Niederlanden votierte eine Mehrheit dagegen. Und sie tat das vorrangig nicht deshalb, weil der Entwurf eine Bestimmung über die europäische Fahne und Hymne enthielt oder der EU-Außenminister auch so genannt wurde. Oder weil es im Verfassungsvertrag eine Charta der Grundrechte gab. Oder das Stimmgewicht Polens im Rat zu gering erschien und die Bezeichnung "Verfassung" über Gebühr störte. Den Organisatoren des Nein, die auch in Frankreich und den Niederlanden gegen eine verselbstständigte politische Oligarchie argumentieren mussten, ging es gerade um die Substanz der Verfassung, wie sie von den jetzigen Brüsseler Vereinbarungen nicht tangiert wird. Insofern war dieser EU-Gipfel tatsächlich ein Erfolg - ein Erfolg der Täuschung und Propaganda, der Ablenkung und des Sprachmissbrauchs, besonders der Missachtung des demokratischen Souveräns.Auch wenn Nicolas Sarkozy darauf gedrängt hat, dass aus den Zielbestimmungen der Verfassung der "Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb" gestrichen wird - es handelt sich nur um Kosmetik. Denn die Verpflichtung auf eine "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" taucht im Verfassungsentwurf gleich drei Mal auf und nicht bei den allgemeinen Zielbestimmungen, sondern der speziellen Definition einzelner Politiken. Die Verfassung legt die Union damit auf eine marktradikale Logik fest, die für die Bevölkerung mit Sozialabbau, Privatisierung, ungleicher Verteilung und größerer Armut spürbar sein wird. Wie die Union getrimmt sein soll, lässt sich der Verpflichtung zum Wettbewerb in der Telekommunikation, Energieversorgung und dem öffentlichen Verkehr ebenso entnehmen wie dem Primat der Preisstabilität, dem alleinigen Maßstab für eine in keiner Weise demokratisch kontrollierte Zentralbank. Die Marktlogik triumphiert im Einstimmigkeitsprinzip bei Entscheidungen über Mindeststeuern und weiten Teilen der Sozialpolitik, sie zeigt sich im Verbot staatlicher Beihilfen oder als radikale Deregulierung bei Dienstleistungen.Diese Fixierung auf Marktradikalität widerspricht den demokratischen Normen von Politik, die stets die Möglichkeit zum Richtungswechsel offen halten - laut Verfassung ist der weitgehend ausgeschlossen. Folglich bleibt das Parlament machtlos, bleibt es beim bekannten Demokratiedefizit, bleibt die Kommission das Exekutivorgan der Interessenten und Nutznießer dieser "offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb", die von allen sozialen und demokratischen Bindungen befreit ist. Merkels Erfolg in Brüssel war kein Erfolg für die Demokratie.Professor Andreas Fisahn ist Jurist an der Universität Bielefeld und Mitglied des Beirates von Attac.