Seit Jahren verurteilen deutsche Strafgerichte Sitzblockierende regelmäßig wegen Nötigung. Das ist Teil einer Einschüchterungspraxis, die neben dem Strafrecht auch mit horrenden Kostenerstattungsklagen für Polizeieinsätze aufwartet. Die Strafgerichte berufen sich für die Verurteilungen auf Paragraf 240 des Strafgesetzbuches, der die rechtswidrige Nötigung „mit Gewalt“ dann verbietet, wenn die Täter verwerflich handeln.
Keine Verwerflichkeit
Auch das Bundesverfassungsgericht urteilte am Dienstag über einen Fall friedlicher Resistenz: Der Beschwerdeführer hatte 2004 auf einer Zufahrt zu einem US-Stützpunkt gegen den Irak-Krieg protestiert. An diesem Krieg hatte die Schröder-Regierung sich offiziell nicht, inoffiziell aber durch die Gewährung von Überflugs- und Stationierungsrechten für die USA, sowie durch den eigenen Einsatz von AWACS über der Türkei eben doch beteiligt. Der friedliche Protest führte zu einer Verurteilung wegen Nötigung durch das Landgericht Frankfurt. Der Vorwurf: Die Sitzblockade habe Fahrzeuge an der Weiterfahrt gehindert, die Wagen hätten sich über mehrere Reihen gestaut. Verwerflich sei dies deshalb, weil sich die Sitzblockade nicht im schlichten Blockieren des Straßenverkehrs erschöpft habe, sondern Mittel zur Erregung von Aufmerksamkeit für politische Zwecke gewesen sei.
Es ist dem Bundesverfassungsgericht zu Gute zu halten, dass es sich dieser Argumentation widersetzt und klargestellt hat, dass einer Aufmerksamkeitserregung die Verwerflichkeit abgeht. Den Strafgerichten wird attestiert, dass sie die Versammlungsfreiheit grundsätzlich falsch verstehen, wenn sie nicht berücksichtigen, dass es für die Versammlungsfreiheit schlicht konstitutiv ist, Aufmerksamkeit zu erregen.
Zweite-Reihe-Rechtsprechung
Wenn sich der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes darin erschöpfte, bei der Verwerflichkeitsprüfung eine hinreichende Beachtung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit einzufordern, könnte man ihn vorbehaltslos begrüßen. Der Kammerbeschluss macht der Strafgerichtsbarkeit aber leider ein folgenreiches Zugeständnis: Das Bundesverfassungsgericht erkennt die sogenannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs an.
Seit 1995 haben sich der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht einen erbitterten Streit über den Gewaltbegriff des Nötigungsparagrafen geliefert, der sich im Kern darum dreht, ob die „Gewalt“, von der Paragraf 240 spricht, physischer Natur sein muss, oder ob auch psychische Gewalt strafbar ist sein kann. Die Strafgerichte sahen bis 1995 regelmäßig auch psychische Gewalt als von Paragraf 240 umfasst an. Nur so konnten viele Sitzblockaden überhaut erst als Nötigung qualifiziert werden, denn dem Sitzen fehlt mangels der Kraftentfaltung regelmäßig das physische Gewaltmoment. Die Strafgerichte sahen beim Sitzen aber eine subtile psychische Gewalt am Werk, die die Autofahrer nötige, Sitzblockierende nicht zu überfahren.
1995 hatte das Bundesverfassungsgericht diesen psychischen Gewaltbegriff für verfassungswidrig erklärt: Passive Resistenz sei keine Gewalt, da keine Kraft entfaltet werde. Die Strafgerichte leisteten dem Verfassungsgericht vordergründig Gefolgschaft, indem sie den psychischen Gewaltbegriff nicht weiter verwendeten. Aber noch im selben Jahr entwickelte der Bundesgerichtshof seine berüchtigte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“: Sobald zur ersten per Sitzblockade entstandenen Autoreihe weitere Reihen hinzutreten, seien die weiteren Reihen mit einem physischen Hindernis (der vorderen Reihe) konfrontiert, die für die Nötigung zu verlangende Gewalt liege in der Blockade dieser Folgereihen, die der Sitzblockade als mittelbare Gewalt zuzurechnen sei.
Pyrrhussieg der Versammlungsfreiheit
Der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem März hat nun erstmals diese Argumentationsvolten als verfassungsmäßig anerkannt und die strafgerichtliche Praxis der Verurteilung wegen mittelbarer Gewaltanwendung unbeanstandet gelassen.
Dadurch nimmt der Beschluss, was er zu geben vorgibt: Der Schutzmantel der Versammlungsfreiheit für Sitzbockaden wird nun erstmals auch verfassungsgerichtlich gelüftet, indem die Zweite-Reihe-Gewalt als grundgesetzlich zulässige Nötigungsgewalt anerkannt wird. Friedliche Resistenz kann sich jetzt noch schwerer als zuvor darauf berufen, keine Gewalt im Sinne des Paragrafen 240 des Strafgesetzbuches angewendet zu haben. Der subsidiäre Schutz, den das Bundesverfassungsgericht über die Erhöhung der Argumentationslast für die Verwerflichkeit anbietet, ist hierfür kein adäquater Ausgleich.
Die Strafgerichte werden zukünftig im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung umfassend über die Dauer und die Intensität der Aktion, die Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch den Sachbezug der Blockade räsonieren müssen. Das zwingt die Grundrechtsträger in die Niederungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung und legt den Protestierenden das Prozessrisiko für eine Einzelfallkasuistik auf, die unberechenbare Blüten treiben wird. Für die Versammlungsfreiheit ist der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts darum leider nur ein Pyrrhussieg – und hoffentlich nicht das letzte Wort.
Andreas Fischer-Lescano ist Direktor des Zentrums für Europäische Rechtspolitik in Bremen (www.zerp.eu)
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