Um ein Foto an der Eingangstür seines Chemnitzer Restaurants Schalom muss man Uwe Dziuballa nicht lange bitten. Aufrecht stellt sich der großgewachsene 56-Jährige vor die Tür, breites Lächeln im runden Gesicht, die Hände trotzig in die Taschen gesteckt. So einer, das verheißt dieses Bild, so einer lässt sich nicht einschüchtern und vertreiben. Oder täuscht der Eindruck?
Für unser Treffen schließt der Gastwirt extra sein Restaurant auf. Denn das Schalom ist derzeit, nach der wochenlangen Corona-Schließung, nur an ein paar wenigen Abenden in der Woche geöffnet. Erst von Juli an will der Wirt wieder zum normalen Betrieb übergehen. Wir sitzen an einem Holztisch, auf Abstand, wie es sich gehört. Und doch kommen wir uns nahe in unserem Gespräch. Am Ende wird der Chemnitzer Jude Dziuballa noch einmal auf die eingangs gestellte Frage, ob er sich einschüchtern und vertreiben lasse, zurückkommen. Er wird zwei gegensätzliche Antworten darauf geben. Sie stehen für die Zerrissenheit wohl vieler jüdischer Deutscher derzeit. Eigentlich will man ein normales und geachtetes Leben führen in diesem Land. Und muss dann damit umgehen, dass man täglich mal mehr, mal weniger offen Hass und Verachtung erleidet. Und manchmal auch pure Gewalt. So wie Uwe Dziuballa.
Am 5. Juli beginnt vor dem Amtsgericht Chemnitz der Prozess gegen einen 29-jährigen Mann aus Stade bei Hamburg. Der einschlägig vorbestrafte Rechtsextremist soll am 27. August 2018 aus einer Gruppe vermummter Angreifer heraus Steine auf das Schalom geworfen und dessen Besitzer, der vor die Tür getreten war, an der Schulter getroffen und verletzt haben. Dabei wurden Parolen wie „Judensau“ und „Verschwinde aus Deutschland“ gerufen.
Seine Familie kam 1732
Über den mutmaßlichen Täter will Dziuballa nicht viele Worte verlieren. Lieber erzählt er von seiner Familie. Seine Vorfahren stammen aus Krakau, kamen 1732 nach Preußen. „Unsere Familie war schon hier, da war das Deutsche Reich noch nicht gegründet“, sagt er. Im Nationalsozialismus wurde die Familie auseinandergerissen, ein Teil konnte fliehen, andere wurden ermordet, manche überlebten den Holocaust unentdeckt. Dziuballa selbst wurde 1965 in Karl-Marx-Stadt geboren, wie Chemnitz damals hieß. Hier machte er sein Abitur und studierte Elektrotechnik und Elektronik. Nach der Wende absolvierte er eine Ausbildung bei der Deutschen Bank in Köln und ging als Investmentbroker in die USA. Ende 1993 kehrte Uwe Dziuballa in seine Heimatstadt zurück. Sieben Jahre später eröffnete er in der Chemnitzer Innenstadt das Schalom, das inzwischen über die Landesgrenzen hinaus den Ruf als eines der besten koscheren Restaurants in Deutschland hat. Der Guide Michelin empfahl es 2018, in Chemnitz zählt es zu den besten Restaurants der Stadt.
In die Schlagzeilen geraten ist das Schalom vor fast drei Jahren aber wegen des Neonazi-Angriffs. „Im Grunde ist es mir scheißegal, wer das damals war“, sagt der Wirt. „Und wenn das frustrierte schwule Veganer gewesen wären. In meiner Welt, in der ich leben will, schmeißt man nicht mit Steinen auf Menschen.“
Dziuballa grinst. Und wartet auf die Wirkung seiner Worte. Ist sein Gegenüber geschockt? „Ich rede nicht gern drum herum“, sagt er schließlich. „Kann sein, dass es nicht immer politisch korrekt ist, was und wie ich es sage. Aber mit mir wird ja auch nicht immer korrekt umgegangen.“ Und dann klappt er seinen Laptop auf, zeigt Fotos und kleine Videoschnipsel. In die Tür des Schalom geritzte Hakenkreuze sind zu sehen, antisemitische Schmierereien, zerschlagene Restaurantschilder, herausgerissene Blumen von der Terrasse, ein Rudolf-Heß-Plakat an der Tür. Leute, die an der Gaststätte vorbeigehen und den Hitlergruß zeigen. Und ein Schweinekopf, der in einer Winternacht vor der Tür des Schalom lag. Schnee auf dem abgetrennten Kopf, deutlich erkennbar: ein aufgemalter Judenstern. In einem anderen Video ist Dziuballas Frau zu sehen, die in einem Park an einer Gruppe von Menschen vorbeigeht. Sie rufen ihr „Sieg Heil!“ nach.
Der Wirt klappt den Laptop zu. „Jedes Jahr wird uns vom Verfassungsschutz erzählt, ob die Zahl von Rechtsextremisten angestiegen oder gefallen ist“, sagt er. „Mir ist das völlig egal. Ich weiß nur, dass die Summe der Schmierereien an meinem Restaurant, der widerlichen Briefe und Anrufe, in denen meine Mitarbeiter und ich als dreckige Juden beschimpft werden, die vergast oder zumindest verjagt gehören, in jedem Jahr konstant hoch geblieben ist. Und viele der Urheber tauchen in keiner Verfassungsschutzstatistik auf, weil sie eben keine behördlich erfassten Neonazis sind.“
Marsch, Hetzjagd, Angriff
Das Schlimmste für ihn und seine Familie sei aber gewesen, sagt er, dass die Polizei bis vor einigen Jahren die Übergriffe nicht ernst genommen habe. „Wir haben uns als Störenfriede gefühlt. Ich habe es förmlich gespürt, wie die Beamten gedacht haben: ‚Schon wieder dieser Jude!’, wenn ich aufs Revier kam, um Anzeige zu erstatten.“ Alle seine Anzeigen seien im Sande verlaufen, die Verfahren wurden nach kurzer Zeit eingestellt. Offenbar weil man sich auch wenig Mühe gab, die Vorgänge aufzuklären, wie Dziuballa vermutet.
Im Juli 2012 habe er einen offenen Brief an den Chemnitzer Polizeipräsidenten geschrieben. Darin entschuldigte er sich in sarkastischem Ton dafür, die Beamten in der Vergangenheit mit seinen Angelegenheiten behelligt zu haben, und versprach, der Polizei keine Arbeit mehr zu machen, indem er die antisemitischen Übergriffe auf sich und sein Restaurant künftig nicht mehr anzeige. Die Reaktion der Behörde? „Nichts. Nada. Ich habe nie eine Antwort erhalten. Als ich einmal bei einem dieser städtischen Empfänge, zu dem man mich als Vorzeigejuden gern einlädt, auf den Polizeipräsidenten traf, wollte ich mit ihm darüber sprechen. Aber als ich auf ihn zulief, drehte er sich weg.“
Dennoch, so glaubt er, habe sein Brief ein Nachdenken bewirkt bei der Polizei. Mit dem neuen Polizeipräsidenten, der 2013 ins Amt kam, seien die Streifenfahrten an seinem Restaurant verstärkt worden. Die Beamten hätten nun freundlich gegrüßt und auch versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. „Da war eine größere Aufmerksamkeit zu spüren, mehr Zugewandtheit“, sagt er. Aber er habe es dennoch vermieden, zur Polizei zu gehen, wenn es wieder Übergriffe gegeben hatte. „Da war noch kein Vertrauen wieder da. Ich habe mich nicht mehr an die Polizei gewandt um Hilfe – bis zum 27. August 2018.“
Jenem Tag also, der nun Gegenstand des Prozesses sein wird. Damals war es in der Chemnitzer Innenstadt am Rande einer Demonstration zu den schwersten Ausschreitungen der vergangenen Jahre in Sachsen gekommen. Anlass der Demonstration war der gewaltsame Tod eines Chemnitzer Bürgers, der von einem Asylbewerber erstochen worden war. Zu dem sogenannten Trauermarsch waren gewaltbereite Rechtsextremisten und Hooligans aus dem ganzen Bundesgebiet angereist, an ihrer Seite marschierten führende AfD-Funktionäre mit. Nach der Demonstration kam es vereinzelt zu Hetzjagden auf vermeintliche Migranten, auch Polizisten und Journalisten wurden angegriffen. Bis in den Abend hinein zogen kleinere Gruppen rechter Randalierer durch die Stadt. Dabei kam es auch zu dem gezielten Angriff auf das Schalom.
„Ich hatte mitbekommen, dass in der Stadt einiges los war an diesem Tag, aber in unserer Nebenstraße war es ruhig geblieben“, erinnert sich Uwe Dziuballa. Gegen 21.30 Uhr hätten die letzten Gäste das Restaurant verlassen, nur zwei Bekannte waren noch auf ein Glas Rotwein geblieben. „Wir wollten gerade den Abend beenden und ich ging zum Eingang, um abzuschließen. Es war schon dunkel, und als ich vor die Tür trat, stand direkt vor mir eine Gruppe von Menschen auf dem Gehweg, wie eine Wand.“ Er habe sich erschreckt und bedrängt gefühlt, auch weil er die teils vermummten Gesichter nicht gesehen habe. Plötzlich seien Dinge um seinen Kopf herumgeflogen, es habe richtig geprasselt. Ein Stein habe ihn an der rechten Schulter getroffen.
Die Gruppe zog sich dann auf die andere Straßenseite zurück. Geistesgegenwärtig machte er mit seinem Handy Fotos. „Ich musste das tun, auch um mich zu versichern, dass das real ist, was hier gerade passiert“, sagt er. Die Bilder zeigen etwa ein Dutzend Menschen in Jacken, ihre Gesichter unter Kapuzen oder hinter Schals verborgen. „Aus der Gruppe heraus hörte ich Schreie und Rufe, deutlich verstanden habe ich den Ruf ‚Judensau, verschwinde‘“, sagt Dziuballa. „Meinen Gästen im Raum rief ich zu: Bleibt drin, das ist kein Spaß mehr.“
Dann habe er die Polizei angerufen, „das erste Mal wieder seit 2008“, sagt er. Nach wenigen Minuten schon seien die Beamten da gewesen. Er und seine beiden Gäste seien befragt worden, während draußen die Polizisten die Wurfgeschosse einsammelten: zwei Zaunlatten, fünf Flaschen, ein Dutzend Steine in allen Größen und ein Stahlrohr. Die Beamten hätten sich sehr freundlich und fürsorglich verhalten. „Dafür bin ich heute noch sehr dankbar.“
Er vertraut der Polizei wieder
Dieser Abend habe viel dazu beigetragen, dass er zur Polizei heute wieder ein „normales bürgerliches Verhältnis“ habe, wie er sagt. Vor größeren Aufmärschen in der Stadt komme der zuständige Revierleiter zu ihm und informiere ihn über die Lage; auch die neue Polizeipräsidentin schätze er sehr. Und ja, er fühle sich sicher in der Stadt, auch wenn er immer wieder Judenhass und antisemitische Schmähungen erlebe. „Aber ich habe wieder mehr Vertrauen in die Polizei, die solche Vorkommnisse heute viel ernster nimmt als noch vor ein paar Jahren.“
Doch die Attacke von 2018 hat ihn gezeichnet. „Was bei mir hängengeblieben ist, was ich nicht rausbekomme aus meinem Kopf, sind diese hasserfüllten Blicke der Menschen, die mir da vor dem Restaurant gegenüberstanden. Woher kommt dieser Hass? Der Stein, der an meine Schulter flog, hätte mich auch an der Schläfe treffen können. Warum nehmen Menschen mitten in Friedenszeiten in Kauf, jemanden zu töten, um damit ihre politischen Ansichten auszudrücken?“, fragt er. Wenn er heute mit seiner kleinen Nichte das Haus verlasse oder sich mit Leuten in der Stadt treffe, setze er daher stets einen Hut auf. „Dann sieht man meine Kippa nicht, die ich trage.“ Der 80-jährigen Mutter hätten sie eingeschärft, die Goldkette mit dem Davidstern unter dem Pullover zu tragen, wenn sie außer Haus geht.
Zwei Straßenecken weg vom Schalom, mitten auf der Fußgängerpromenade Brühl, hat die Stadt stählerne Buchstaben aufgestellt, zwei Meter hoch. Sie formen das Wort „Zuhause“. Fühlt sich der geborene Chemnitzer Uwe Dziuballa zu Hause in seiner Stadt? Der Wirt lässt sich Zeit mit seiner Antwort. „Heimat wird geprägt von Menschen, von deiner Familie, dem sozialen Gefüge um dich herum, den Kontakten, die du hast“, sagt er dann. „Wir sind hier ein koscheres Restaurant mit Michelin-Empfehlung, das man sogar in New York kennt, und gleichzeitig eine Kiezkneipe, in die Nachbarn aus den umliegenden Häusern nach der Arbeit kurz auf ein Glas Wein vorbeikommen, bevor sie nach Hause gehen. In unserem Tresor liegen die Schlüssel von zwölf Wohnungen und vier Läden im Kiez, die die Leute hier abgegeben haben für den Fall, dass ihnen mal die Tür zu Hause zufällt.“
Dziuballa schweigt und schaut nachdenklich durch sein Restaurant. „Aber wie kann ich alter DDR-Bürger, der schon einmal den Zerfall eines politischen Systems erlebte, sicher sein, dass es die heutige Demokratie in Deutschland bis ans Ende meines Lebens geben wird?“ Er habe Zweifel, manchmal, und das liege daran, was ihm widerfahren ist und immer noch widerfährt. „Eins ist mir klargeworden“, sagt er. „Wenn es ans Eingemachte geht, dann sollte man nicht zu lange bleiben. Bevor es zu spät ist.“
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