Der letzte Tag im Leben des Roland K. begann wie so viele davor – mit drei Weizenbier im Martinseck, der Dorfkneipe im südhessischen Biebergemünd. Dann schnappte er sich seine schwarze Sporttasche mit den zwei Pistolen und stieg in seinen Toyota Corolla, um ins benachbarte Wächtersbach zu fahren. Dort, auf einer Straße im Industriegebiet, fand er, was er suchte. Aus dem Auto heraus feuerte K. mit seiner Pistole auf den jungen Mann, der gerade seine Pause in einem Ausbildungszentrum dazu nutzen wollte, zu einem nahen Imbiss zu gehen. Das Opfer, der 26-jährige eritreische Flüchtling Bilal M., erlitt einen Bauchdurchschuss und überlebte knapp. Nach der Tat kehrte der 55-jährige Deutsche zurück ins Martinseck in Biebergemünd und bestellte sich ein weiteres Weizen. „Isch hab ’nem Nescher in de Ranze geschosse“, soll er in südhessischer Mundart zum Wirt gesagt haben. Der will nur mit den Achseln gezuckt haben. Später, im Gespräch mit Journalisten, erinnerte sich der Mann, dass K. immer wieder gegen Ausländer gewettert habe. „Der Roland hatte ein Problem mit Asylanten und Flüchtlingen“, sagte der Wirt. „Die haben ihm halt nicht geschmeckt.“
Gewalt als Weltanschauung
Der Mordanschlag von Wächtersbach schockiert durch seine Brutalität und die zufällige Auswahl des Opfers. Ein rassistisches Verbrechen, das – worauf vieles hindeutet – von einem frustrierten, isolierten Einzeltäter begangen wurde, der sich nach seiner Tat selbst richtete. Gleichwohl muss der Anschlag als Teil eines wiedererwachten rechten Terrors verstanden werden. Eines Terrors, zu dessen Protagonisten organisierte Gruppen und Zellen ebenso zählen wie fanatisierte Einzeltäter oder frustrierte Wirrköpfe. Sie alle wollen mit ihren Anschlägen und Attentaten gegen Minderheiten einen „Rassenkrieg“ provozieren, mit dem Ziel, die Bundesrepublik in eine geschlossene, ethnisch homogene Gesellschaft weißer Deutscher umzuwandeln, denen Asylsuchende und Geflüchtete „halt nicht schmecken“. In diesem Ziel wissen sie sich einig mit den Rechtspopulisten und völkischen Nationalfaschisten der AfD, die wie der Thüringer Landeschef Björn Höcke vom „Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“ fabulieren. Damit propagiert die AfD einen entsprechenden „Volkswillen“, der auf wachsenden Widerhall in der Bevölkerung stößt und von Rechtsterroristen vollstreckt wird.
Der rassistische Terror gehört damit längst zu den politischen Kampfwerkzeugen einer rechten Einheitsfront, die inzwischen von den Parlamentariern der AfD bis zu den Terrorzellen von Combat 18 reicht. Er schließt – als Fortsetzung der NSU-Mordserie – die Brand- und Sprengstoffanschläge auf Flüchtlingsheime ebenso ein wie den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der sich für eine humane Migrationspolitik aussprach, und das Attentat von Wächtersbach. Denn Terrorismus ist vor allem – wie es der Jurist und Soziologe Peter Waldmann definiert – eine „Kommunikationsstrategie“, bei der die Gewalt „als ein Mittel, eine Art Signal eingesetzt (wird), um einer Vielzahl von Menschen etwas mitzuteilen“. Bei rechtsterroristischen Anschlägen sind dabei Bekennerschreiben unüblich und auch nicht notwendig, wie man schon beim NSU sah. Handeln statt Worten, lautet die Devise.
Wobei auch die verbale Drohkulisse steht. Morddrohungen gegen Politiker, Anwälte und Journalisten sind inzwischen Alltag, zuletzt erstattete der WDR Strafanzeige, weil der Monitor-Moderator Georg Restle mit dem Tod bedroht wird. Zahlreiche Gerichte und Behörden wurden in den vergangenen Monaten geräumt, wegen Bombendrohungen von der „nationalsozialistischen Offensive“. Der Terror ist ein konstitutives Moment der rechtsextremen Szene, Gewalt ein fester Bestandteil ihrer Weltanschauung. Das heißt, es gibt – anders als im linksterroristischen Bereich – keine grundsätzlichen Diskussionen über die Legitimität von Gewalt und bewaffnetem Kampf.
Trotz der in den vergangenen Jahren gestiegenen Zahlen gewaltbereiter Rechtsextremisten und von ihnen begangener Gewaltdelikte nehmen vor allem konservative Parteien wie CDU und CSU die Gefahr des Rechtsterrorismus bislang nicht ernst genug. Und das, obwohl der christdemokratische Regierungspräsident Lübcke der erste Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik war, der einem rechtsextremen Mordanschlag zum Opfer fiel. Dennoch betonen Unionspolitiker immer wieder, es gebe keine Anhaltspunkte für einen nationalsozialistischen Untergrund in Deutschland. Anschläge würden lediglich von Einzeltätern oder Kleinstgruppen begangen, Rechtsextremisten in Bundeswehr und Polizei seien ebenfalls Einzelfälle. Und auch die Namens- und Adresslisten politischer Gegner, die seit Jahren in der rechten Szene kursieren, haben, folgt man Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), keinerlei Bedeutung.

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images
Zuletzt waren solche oft als Todeslisten bezeichneten Datensammlungen bei einem bundesweiten Netzwerk paramilitärischer Untergrundmilizen gefunden worden, dem Polizisten, Elitesoldaten, Verfassungsschützer und Zivilisten angehören. Diese rechtsmilitanten, als Prepper verharmlosten Extremisten bereiten sich auf einen Tag X vor, an dem unter anderem politisch Andersdenkende festgenommen und liquidiert werden sollen. Ähnliche Namenslisten hatten Fahnder im November 2011 im Brandschutt des NSU-Unterschlupfes in der Zwickauer Frühlingsstraße sichergestellt. Darauf stand bereits auch der Name des Anfang Juni ermordeten Walter Lübcke, der 2009 zum Regierungspräsidenten in Kassel berufen worden war.
Das Bürgerkriegsszenario
Nun erklärte das Bundesinnenministerium, eine Auswertung der aufgefundenen Namenslisten habe „bisher keine Anhaltspunkte“ dafür ergeben, dass „die Betroffenen einer konkreten Gefährdung unterliegen“. Der in der „medialen und öffentlichen Diskussion verbreitete Begriff der ,Feindes- oder gar Todeslisten‘“ sei daher „konsequent zurückzuweisen“, hieß es Ende voriger Woche in einer Stellungnahme Seehofers. Am Anfang derselben Woche geschah das Attentat in Wächtersbach, in Berlin erhielt die Bundeszentrale der Linkspartei eine Bombendrohung und im sächsischen Zittau explodierten am Wohnhaus einer Linken-Stadträtin Sprengkörper.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Sicherheitsbehörden die Lage in jüngerer Vergangenheit dramatischer und wohl auch realistischer einschätzten als die Politik. So legte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) schon im Frühjahr eine Analyse über die Gefahren vor, die von gewaltbereiten Rechtsextremisten ausgehen. In dem Papier spricht die Behörde von „rechtsterroristischen Ansätzen und Potenzialen“, die sich „in unterschiedlichen Strömungen und Spektren der rechtsextremistischen Szene, aber auch am Rande oder gänzlich außerhalb“ entwickeln. Maßgebliche Akteure seien „wenig komplex organisierte Kleingruppen und Einzelpersonen“. Die Szene sei neu und relativ jung. Bei den Protagonisten handele es sich überwiegend um Männer im Alter von etwa 30 Jahren, die erst seit wenigen Monaten oder Jahren rechtsextremistisch aktiv seien. Zum Teil würde es sich um bislang „gänzlich unbekannte Personen“ handeln. Kaum noch Einfluss hätten größere rechtsextreme Organisationen, in denen sich potenzielle Straftäter sammeln würden, was die Überwachungsarbeit für den Verfassungsschutz „deutlich arbeits- und personalintensiver“ mache.
Typisch für die heutige rechtsextremistische Szene sind laut BfV lose und sich überschneidende Netzwerke, zu denen zunehmend auch rechte Soldaten und Polizisten gehören. Eine große Rolle bei Kommunikation und Radikalisierung spielen soziale Netzwerke und Messenger-Dienste, etwa zu den Themenfeldern Asyl, Migration und Islam. Das BfV findet, eine stärkere Überwachung des Internets sei notwendig, da im Netz „hohe Risiken in Bezug auf Radikalisierung, Mobilisierung und Konspiration“ bestünden. Rechtsextremisten planten und trainierten vorwiegend anhand von „improvisierten Sprengstoffanschlägen“, wobei jedoch „eklatante Lücken zwischen Planung und Realität“ bestehen würden, hält das BfV fest. Allerdings hat man dort auch registriert, dass sich Rechtsextreme auf ein „Bürgerkriegsszenario“ vorbereiten und folgert, das schließe den Gebrauch von Schusswaffen ein.
Nicht unter Kontrolle
Auf einer Pressekonferenz Mitte Juni, gut zwei Wochen nach dem Mord an Lübcke, unterstrich BfV-Präsident Thomas Haldenwang noch einmal die Gefahrenlage. Seit der „Flüchtlingskrise“ sei eine Radikalisierung der rechten Szene zu beobachten, sagte er. Seine Behörde zähle derzeit 12.700 gewaltorientierte Rechtsextremisten. Angesichts „der Dimension der Bedrohung“ könne man nicht sagen, dass die Lage unter Kontrolle sei, so Haldenwang. Von einer „neuen Dynamik im Bereich Rechtsextremismus“ sprach er Ende Juni bei einer Sondersitzung des Bundestagsinnenausschusses. „Es geschieht unheimlich viel an Emotionalisierung, an Aufheizung der Situation im Netz durch Hass-Postings.“ BKA-Präsident Holger Münch schloss sich bei diesem Termin der Gefahreneinschätzung seines Kollegen an: „Schwerste Gewaltstraftaten durch Einzeltäter oder Kleinstgruppen, auch die Bildung terroristischer Gruppen innerhalb des rechten Spektrums müssen in Betracht gezogen werden“, sagte er. Es gebe „eine Dringlichkeit“ zu handeln, die Gefahr sei nicht nur in Deutschland gewachsen, sondern europaweit.
Auch die Bundesanwaltschaft scheint mittlerweile – anders noch als im Fall des NSU – bereit, früher und intensiver rechtsterroristische Netzwerke aufzuklären. Die Behörde hatte Terrorismusverfahren gegen die Gruppen „Old School Society“, „Gruppe Freital“ und „Revolution Chemnitz“ eingeleitet, bevor diese geplante Mordanschläge durchführen konnten. Im Fall des mutmaßlich vom Kasseler Rechtsextremen Stephan E. ermordeten CDU-Politikers Lübcke versicherte Generalbundesanwalt Peter Frank den Abgeordneten im Innenausschuss, man gebe sich nicht mit der Aussage des Beschuldigten, als Einzeltäter gehandelt zu haben, zufrieden. Auch Bundesanwalt Thomas Beck, leitender Terrorermittler des Generalbundesanwalts, kündigte im Hessischen Landtag an, die Ermittlungen zu möglichen Mitwissern und Mittätern im Mordfall Lübcke auf das gesamte Bundesgebiet auszudehnen. Geplant seien „Durchsuchungen, Abklärungen und Überwachungen auf breitester Front“. Zwar stünden zunächst die rechtsextremen Szenen in Kassel und Dortmund im Mittelpunkt der Untersuchungen; es werde aber „in konzentrischen Kreisen“ nach möglichen Vernetzungen in anderen Bundesländern gesucht. Bei der Überprüfung von Kontaktpersonen und der Kommunikation von Stephan E. gehe es auch um die Frage: „Gibt es Bezüge zum NSU?“
Seit 2001 hat die Bundesanwaltschaft rund 40 Ermittlungsverfahren gegen rechtsterroristische Gruppen und Personen geführt. Dem stehen im gleichen Zeitraum rund 1.700 Verfahren mit ausländerextremistischem oder islamistischem Hintergrund gegenüber. Angesichts der Bedrohung unserer offenen Gesellschaft durch Neonazis, deren Brutalität und Menschenverachtung dem Islamismus in nichts nachstehen, ist es an der Zeit, gegen den rechten Terror ebenso konsequent vorzugehen. Zumindest BKA-Chef Münch scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben: Er kündigte am Dienstag an, das polizeiliche Instrumentarium zur Bekämpfung des Islamismus auf den Rechtsextremismus zu übertragen.
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