Fretterode-Prozess gegen Nazis: Dieses Urteil ist ein Skandal
Rechtsextremismus 2018 attackierten zwei Rechtsextreme in Thüringen zwei Journalisten – mit Schraubenschlüssel, Messer und Pfefferspray. Das jetzt, viereinhalb Jahre später, ergangene Urteil des Landgerichts Mühlhausen macht sprachlos
Die Angeklagten können sich über unglaublich milde Urteile freuen
Foto: Swen Pförtner/picture alliance/dpa
Nach einem brutalen Überfall auf Göttinger Journalisten kommen die beiden dafür angeklagten Neonazis aus Thüringen mit überraschend milden Strafen davon. Das Landgericht Mühlhausen verurteilte den früheren Göttinger NPD-Chef Gianluca B. zu einem Jahr Haft auf Bewährung; sein Komplize Nordulf H., Sohn des Thüringer NPD-Vorstands Thorsten Heise, wurde zu 200 Arbeitsstunden verurteilt. Das Gericht legte den Angeklagten in seinem Urteil lediglich Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last. Für den von der Anklage zusätzlich behaupteten Verdacht des schweren Raubes sahen die Richter keine ausreichenden Beweise.
Die Staatsanwaltschaft hatte für B. noch eine Haftstrafe von drei Jahren und
Jahren und vier Monaten gefordert, für H. eine Bewährungsstrafe nach Jugendstrafrecht. Auch diese Strafmaße wären angesichts der Tatsache, dass beide Angeklagte bei ihrem brutalen Überfall durchaus den Tod ihrer Opfer in Kauf nahmen, mehr als milde gewesen. Allerdings wollten sowohl Ankläger wie das Gericht auch keine bedingte Tötungsabsicht hinter dem Angriff der rechten Schläger erkennen, weshalb B. und H. in dem Prozess nicht – wie es die Nebenkläger gefordert hatten – versuchter Totschlag zur Last gelegt wurde.Thorsten Heise von der NPDDas Geschehen, um das es vor dem Landgericht Mühlhausen seit September 2021 ging, trug sich bereits am 29. April 2018 bei Fretterode zu. An diesem Tag sollte in der 130-Seelen-Gemeinde im Eichsfeld ein Neonazi-Treffen stattfinden – auf dem Grundstück Thorsten Heises. Heise, auf dessen Anwesen ein Denkmal mit Abzeichen der Leibstandarte SS Adolf Hitler und der 12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend steht, gilt als zentrale Führungsfigur der rechtsextremen Szene in Deutschland. Zwei Journalisten aus Niedersachsen, die mit Auto gekommen waren und sich auf der öffentlichen Straße vor dem Anwesen aufhielten, wollten mit der Kamera die Anreise von Neonazis zu dem – dann doch nicht stattgefundenen – Treffen dokumentieren.Nachdem sie erste Fotos gemacht hatten, wurden sie plötzlich von zwei Vermummten attackiert, die von dem Heise-Grundstück auf sie zustürmten. Einer der beiden Angreifer, Nordulf H., trug dabei einen übergroßen Schraubenschlüssel in der Hand. Die Journalisten flohen mit ihrem Auto und wurden dabei von den Angeklagten verfolgt. Schließlich stellten die Angreifer die Journalisten einige Kilometer entfernt von Fretterode. Die Neonazis zerstachen die Reifen, zerschlugen die Scheiben des Autos und sprühten Pfefferspray in das Wageninnere. Als einer der beiden Insassen aus dem Auto flüchtete, wurde er von Gianluca B. mit dem etwa 40 Zentimeter langen Schraubenschlüssel niedergeschlagen. Der Schlag war so heftig, dass dem Opfer der Stirnknochen gebrochen wurde.Nazis kaufen GrundstückeDer andere Journalist war im Auto geblieben und setzte sich dort gegen den Angeklagten H. zur Wehr. Dieser hatte es auf die Kamera abgesehen, mit der die beiden Angreifer zuvor fotografiert worden waren. Mehrmals stieß der Täter der Anklage zufolge mit einem Messer, wie es sie in Outdoor-Läden gibt, nach dem Journalisten, traf ihn schließlich im Oberschenkel. Dann griff er sich laut Anklageschrift die Kamera aus dem Wageninneren und raste mit seinem Komplizen davon.Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt, auch weil die Thüringer Polizei einmal mehr schlampig ermittelte und die Justiz den Prozessbeginn immer weiter hinauszögerte. Die Ermittlungspannen trugen schließlich wesentlich dazu bei, dass das Gericht den genauen Ablauf der Ereignisse am Tattag nicht mehr rekonstruieren konnte und im Zweifel zugunsten der Angeklagten entscheiden musste. Kurz vor der Urteilsverkündung sorgte das Vorgehen der Thüringer Polizei noch einmal für Schlagzeilen. Am Dienstag wurde die Wohnung eines Journalisten durchsucht, der angeblich im Zusammenhang mit dem Fretterode-Prozess 2021 an einer Plakataktion gegen Thorsten Heise mitgewirkt haben soll. Heise hatte Anzeige erstattet, worauf die Polizei aktiv wurde, ohne allerdings den Beschuldigten zu befragen.Scharnier zwischen Ost- und WestdeutschlandDer brutale Überfall von Fretterode steht exemplarisch für die Gewalttätigkeit und Aggressivität einer stetig wachsenden und zunehmend besser vernetzten rechtsextremen Szene in Thüringen. So liegt die Zahl der von Rechten verübten Straftaten im Freistaat seit Jahren auf unverändert hohem Niveau und macht fast die Hälfte aller politisch motivierten Delikte aus. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Übergriffen auf Geflüchtete und politisch Andersdenkende. In den vergangenen Monaten etwa hatte es in Erfurt eine ganze Serie von Gewalttaten einer rechtsextremen Gruppe gegen Ausländer gegeben. Zugenommen hat überdies die Zahl rechter Immobilien im Freistaat – inzwischen befinden sich mindestens 19 Grundstücke und Gebäude in den Händen von Neonazis und dienen als Treff- und Veranstaltungsorte für Konzerte, Ideologieschulungen und Kampfsporttraining sowie als Umschlags- und Vertriebsstätten für rechte Rockmusik und Szenekleidung.Damit ist Thüringen nach wie vor einer der Hotspots der Neonaziszene und aufgrund seiner geografischen Lage auch ein wichtiges Scharnier zwischen den rechten Strukturen West- und Ostdeutschlands. Und das, obwohl der Freistaat seit nunmehr acht Jahren von einer rot-rot-grünen Regierung angeführt wird, deren Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow den konsequenten Kampf gegen rechts von Beginn an zu einem der Schwerpunkte seiner Politik erklärt hat. „Das auch von uns so oft beteuerte Signal nach einem starken wehrhaften Rechtsstaat ist bislang leider weitgehend ausgeblieben“, sagt die Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss, Sprecherin der Linken-Fraktion für Antifaschismus. „Dadurch können braune Biotope in Thüringen immer weiter expandieren und Gelder akquirieren, die wieder zurück in die Szene fließen.“Der Geheimdienstchef warntGerade von einer rot-rot-grünen Regierung könnten die Bürger ein konsequenteres Vorgehen erwarten, mit dem Thüringen für die rechte Szene unattraktiv gemacht und der rechte Sumpf strukturell trockengelegt werden kann. „Da haben wir in den vergangenen acht Jahren einiges versäumt“, räumt die Linken-Abgeordnete ein. „Das hat vor allem mit der fachlichen Priorisierung innerhalb der zuständigen Ministerien zu tun, aber auch mit dem politischen Willen der gesamten Landesregierung.“ Ihre Kritik richtet sich dabei vor allem gegen die von den Koalitionspartnern SPD und Grüne geführten Ministerien für Inneres und Justiz. „Wie kann es sein, dass regelmäßige Treffen von einschlägig bekannten rechtsextremistischen Gruppen wie etwa der Artgemeinschaft nicht polizeilich überwacht werden?“, fragt sie. „Auch solche neuen Vereinigungen, die sich in jüngster Zeit gebildet haben, wie die mit einer hohen Aggressivität auftretenden Gruppen ‚Arische Bruderschaft‘ und ‚Neue Stärke‘, haben die Sicherheitsbehörden nach meinem Eindruck noch gar nicht richtig auf dem Schirm. Fragt man sie nach Erkenntnissen über diese Gruppen, dann kommt da nichts.“Doch auch in der Justiz gebe es nach wie vor Defizite bei der Verfolgung rechter politischer Gewalt, klagt König-Preuss. Das sehe man nicht zuletzt an dem Mühlhausener Urteil im Fretterode-Prozess, das die Linken-Politikerin als „absoluten Skandal“ und eine Katastrophe für die Pressefreiheit im Freistaat bezeichnet. „Wieder einmal zeigt es sich damit, dass wir in Thüringen ein Justizproblem haben und Neonazis hier nicht mit adäquaten Strafen rechnen müssen, sondern per Urteil gar noch zu derartigen Taten ermutigt werden“, sagt sie. „Die Justiz macht damit deutlich, dass sie JournalistInnen nicht schützen wird, selbst wenn sie von Neonazis schwer verletzt werden und hätten tot sein können. Teile der Justiz geraten in die Gefahr, aufgrund solcher Urteile von Neonazis als Unterstützungsstruktur wahrgenommen zu werden.“Wo bleibt die Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft?Ein Urteil wie das von Mühlhausen sei kein Einzelfall, fügt die Abgeordnete hinzu. „Selbst wenn die Polizei bei Straftaten eine politische Motivation ermittelt, heißt das noch lange nicht, dass auch die Gerichte das so erkennen. Oft genug bleiben dann bei der Urteilsfindung die rassistische und fremdenfeindliche Motivation der Täter unberücksichtigt.“ Hinzu komme die in vielen Fällen unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer wie etwa auch in dem Mühlhausener Verfahren zum Überfall von Fretterode. „Seit vielen Jahren fordern wir eine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft und eine Schwerpunkt-Gerichtskammer für rechtsextremistisch motivierte und Hassstraftaten, vergeblich“, sagt die Linken-Politikerin. Stattdessen reihe sich in der justiziellen Bearbeitung von rechter Gewalt ein Skandal an den anderen. „Und die extreme Rechte spürt, dass es über Jahre keine Konsequenzen für ihre Gewalttaten gibt. Damit verpufft der Sinn von Strafe im Rechtsstaat.“Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer verweist allerdings auch auf Erfolge im Kampf gegen rechts. „Wir haben in den vergangenen Jahren in einigen Bereichen die Daumenschrauben angezogen und es geschafft, der rechtsextremistischen Szene empfindlich wehzutun, etwa bei Konzerten und Martial-Arts-Veranstaltungen“, sagt er. „Mit dem Schlag gegen die Organisation Turonen/Neue Garde etwa ist es uns außerdem gelungen, einen der Hauptakteure aus dem Spiel zu nehmen, der auch international vernetzt war und nicht zuletzt durch Straftaten im Bereich der Organisierten Kriminalität Geld erwirtschaftete, das der Szene zugutekam.“Von Götz Kubitschek bis CompactDennoch sieht auch Kramer keinen Grund für eine Entwarnung. Was daran liege, dass der Rechtsextremismus längst nicht mehr nur eine Randgruppe der Gesellschaft präge. „Wir haben es vielmehr mit einem Lebensstil zu tun, der immer mehr en vogue wird“, sagt Kramer. „Das spüren wir im Osten noch etwas stärker als im Rest des Landes. Das fängt an bei Siedlungsprojekten, geht über sogenannte Artgemeinschaften und völkische Familien.“ Gerade in den ländlichen Gebieten des Freistaats, die sich – oft zu Recht – abgehängt fühlen, seien zudem Vakuen entstanden, in denen die demokratischen Parteien einfach nicht mehr präsent sind. „Und da stößt die neue Rechte hinein, deren Spektrum von den Neonazis bis zu den sich eher intellektuell gebenden Kreisen um Götz Kubitschek, das Compact-Magazin und die Ideologiefabrik Institut für Staatspolitik reicht. Ihnen gelingt es dort, auf den unterschiedlichsten Ebenen soziale Räume zu erobern und damit bis weit in die Mitte der Gesellschaft Brücken zu bauen.“Aber warum tut man sich in Thüringen so schwer mit dieser Situation? Kramer verweist darauf, dass im Freistaat der Rechtsextremismus lange verniedlicht worden ist, auch und vor allem von der Politik. „Ganz böse aufgewacht“ sei man erst mit dem NSU. „Heute haben wir einen breiten Resonanzboden für rechtes Gedankengut im Land, und das nicht nur bei einfachen Bürgern“, sagt er. Es gebe nach so vielen Jahren Aufklärungsarbeit immer noch kommunale Politiker in Thüringen, die es völlig normal finden, wenn mal jemand in ihrem Umfeld oder ihrem Ort einen rassistischen, nationalistischen Spruch loslässt. Und dann gebe es sogar Landräte, die sich öffentlich über Sinti und Roma echauffieren würden, die im Zuge des Ukraine-Krieges nun nach Deutschland kommen, es sich hier angeblich gutgehen lassen wollen, obwohl sie doch gar keine „richtigen“ Ukrainer seien. „Stellen Sie sich das mal vor!“, empört sich Kramer. „Wenn führende politische Kräfte demokratischer Parteien solche Sprüche loslassen, dann gerät ganz schnell was aus den Fugen. Dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn bei den Bürgern noch ganz andere Ideen und Parolen verfangen.“
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