Stjepan Đureković ist in Eile, als er am Vormittag des 28. Juli 1983 seine Wohnung in München verlässt. Mittags gegen halb zwölf ist der 57-Jährige an einer Brücke im nahe gelegenen Wolfratshausen mit seiner neuen Freundin verabredet, zu einer Schlauchbootfahrt auf der Isar. Zuvor muss er aber noch einiges erledigen. Bei aller Hast schaut sich Đureković aufmerksam um, als er sein Haus verlässt. Der Kroate fühlt sich bedroht und verfolgt, seit er vor einem Jahr sein Heimatland verlassen hat. Er weiß, dass der jugoslawische Geheimdienst im Ausland Regimegegner überwachen und töten lässt. Erst vor wenigen Monaten ist ein Kroate auf einem Feld nahe München zu Tode geprügelt worden, zwei Jahre zuvor wurden zwei Dissidenten in München ermordet. Und auch er selbst ist davon überzeugt, dass man ihn überwacht. Denn Đureković ist Aktivist in der gewaltfreien Dissidentenszene, in wenigen Monaten soll er in das Exilparlament des kroatischen Nationalrats gewählt werden. Und er weiß von Korruption im jugoslawischen Mineralölkonzern INA, wo er bis zu seiner Flucht als Marketingdirektor tätig war. Dieses Wissen ist für die Nomenklatura in seiner Heimat gefährlich.
In Wolfratshausen fährt Đureković zum Grundstück seines Freunds Krunoslav Prates. Prates ist an diesem Tag nicht in der Stadt, aber Đureković hat zu dessen Garage, in der sich eine kleine Druckerei befindet, einen Schlüssel. Dort soll er – so ist es mit Prates abgesprochen – an diesem Vormittag seinen Artikel hinterlegen, der für eine regimekritische Zeitung gedacht ist.
Mehrfache Premiere
Đureković schließt das Garagentor auf und tritt ein. Als er in dem halbdunklen Raum sein Manuskript auf einen Kopierer legen will, fallen plötzlich Schüsse. Đureković wird an der Hand und an beiden Armen getroffen. Er dreht sich um, läuft in Richtung Ausgang. Wieder fallen Schüsse, sie treffen ihn in den Rücken. Neben einer Holzpalette, direkt am Eingangstor der Garage, sinkt er auf die Knie. Noch ein Schuss, diesmal in den Hinterkopf. Đureković fällt nach vorn, bleibt regungslos liegen. Aus dem Halbdunkel der Garage laufen die Angreifer zu ihrem Opfer, schlagen mit einem Haumesser mehrfach wuchtig auf dessen Schädel ein. Minuten später ist Đureković tot.
Die Spurensicherung ergibt, dass es sich um drei Täter gehandelt haben muss. Sie sind bis heute nicht identifiziert, dafür aber glauben die Ermittler, ihre Auftraggeber zu kennen. Diese Personen stehen jetzt, mehr als drei Jahrzehnte nach dem Mord in der Wolfratshausener Garage, vor Gericht: Vom Freitag vor zwei Wochen an müssen sich die beiden früheren kroatischen Geheimdienstgeneräle Josip Perković, 69, und Zdravko Mustač, 73, wegen Beihilfe zum Mord vor dem Oberlandesgericht München verantworten.
Der Prozess ist in mehrfacher Hinsicht eine Premiere. Erstmals hat ein europäisches Land zwei seiner höchsten Geheimdienstoffiziere an einen anderen Staat ausgeliefert, damit sie dort vor Gericht gestellt werden. Jahrelang hatte sich Kroatien dagegen gewehrt, letztlich aber knickte die Regierung auf Druck Deutschlands und der EU ein. Im Januar und April 2014 wurden Perković und Mustač nach Deutschland überstellt, seitdem sitzen sie hier in Haft.
Auch für die Bundesrepublik ist das Verfahren etwas Besonderes. Erstmals verhandelt ein deutsches Gericht gegen zwei mutmaßlich Verantwortliche der schlimmsten Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zwischen 1945 und 1989 sind nach Untersuchungen von Experten insgesamt 67 kroatische Staatsbürger in Deutschland aus politischen Gründen ermordet worden. Wie viel von ihnen der SDS, die kroatische Sektion des jugoslawischen Staatssicherheitsdiensts, auf dem Gewissen hat, weiß niemand genau. Seit den 60er Jahren sollen es mehr als 30 gewesen sein. Ermittler gehen davon aus, dass allein zwischen 1970 und 1989 mindestens 22 Morde in Deutschland vom SDS in Auftrag gegeben wurden. Die Opfer waren zum einen militante Gegner des kommunistischen Regimes, Terroristen, die Anschläge in Jugoslawien planten oder bereits durchgeführt hatten; zum anderen aber gerieten auch gewaltfreie Publizisten und Dissidenten wie Đureković auf die Todeslisten des SDS, weil sie politische Aktivitäten gegen Belgrad betrieben oder von kriminellen Machenschaften der politischen Elite in ihrem Heimatland wussten.
Die politischen Auftragsmorde geschahen unter den Augen des deutschen Staats. Denn die Behörden, insbesondere die hiesigen Geheimdienste, wussten um den blutigen Untergrundkrieg, den Belgrad auf deutschem Boden führte. Führten doch Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst eine Vielzahl von Quellen unter den 9.500 Exilkroaten in der Bundesrepublik. Von diesen Quellen erfuhren die Dienste und damit auch die Bundesregierung, dass die Morde an Dissidenten vom Belgrader Regime angeordnet worden waren.
Dennoch kam es in Deutschland nur zu wenigen Strafverfahren, die noch dazu ausschließlich Helfershelfer betrafen. Der FDP-Politiker Gerhart Baum, der von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister war und in dessen Amtszeit gleich mehrere Exilkroaten in Deutschland ermordet wurden, zeigt heute wenigstens einen Anflug von Reue. Er habe damals geahnt, dass der jugoslawische Geheimdienst hinter den Morden stecke, räumte Baum kürzlich in einem Fernsehinterview ein. Das Ganze sei ein „Eingriff in Deutschlands Souveränität“ gewesen, sagte Baum. „Das konnten wir uns nicht bieten lassen, aber was sollten wir tun?“
Geopolitische Interessen
Er spielt damit auf die geopolitischen Interessen des Westens im Kalten Krieg an. Das Belgrader Regime des 1980 verstorbenen Marschalls Josip Broz Tito und seiner Nachfolger verfolgte zwar unbarmherzig seine politischen Feinde bis ins Ausland – rund 200 Morde und Entführungen weltweit werden dem jugoslawischen Geheimdienst angelastet. Aber der Westen schaute großzügig weg, denn Jugoslawien stand an der Spitze des Verbunds der blockfreien Staaten, die man gern gegen den Warschauer Pakt in Stellung brachte. Außerdem pflegte der Bundesnachrichtendienst informelle Kanäle nach Belgrad, weil der Vielvölkerstaat wichtiges Transitland für Terroristen und Waffenlieferungen in den Nahen Osten war. Der deutsche Auslandsgeheimdienst fürchtete, bei einem Vorgehen gegen jugoslawische Dienste von Informationen etwa über die Reisewege deutscher RAF-Terroristen abgeschnitten zu werden.
Das alles führte dazu, dass Tito von der Bundesregierung hofiert wurde. Willy Brandt traf sich mehrmals mit ihm, Bundespräsident Gustav Heinemann verlieh dem Diktator 1974 sogar die Sonderstufe des Großkreuzes, Deutschlands höchsten Verdienstorden. Dabei hatte Tito erst acht Jahre zuvor im „Grundgesetz über die inneren Angelegenheiten“ Jugoslawiens den Einsatz von Agenten gegen Regimegegner im Ausland legitimieren lassen.
Im Prozess gegen Perković und Mustač werden die politischen Hintergründe zur Sprache kommen. Für das Gericht dürften aber die Aussagen der Tatbeteiligten und Mitwisser wichtiger sein. Etwa von Krunoslav Prates, in dessen Garage Đureković ermordet wurde. Prates war Generalsekretär der europäischen Sektion des Kroatischen Nationalkomitees, der wichtigsten politischen Widerstandsbewegung – und gleichzeitig unter den Decknamen „Boem“ und „Stiv“ Agent des jugoslawischen Geheimdiensts. Weil er Perković den Schlüssel gab, mit dem die Mörder in die Garage gelangten, wurde er 2008 wegen Mords zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der Kronzeuge der Bundesanwaltschaft im damaligen Verfahren gegen Prates und in dem jetzt anstehenden Prozess gegen Perković und Mustač ist jedoch Vinko S., ein selbst in mehrere Mordanschläge verwickelter und deshalb vorbestrafter jugoslawischer Ex-Agent. Unter dem Decknamen „Miso“ gehörte er nach eigener Aussage einer für „spezielle Auslandsoperationen“ zuständigen Sondereinheit an und kennt die Hintergründe des Đureković-Falls. Diese Sondereinheit schickte dem Agenten zufolge Killerkommandos durch Westeuropa, um Regimegegner in ihren Exilländern auszuschalten. Sie sei einem inoffiziellen politischen Geheimdienst unterstellt gewesen, der aus einem „Netzwerk“ kommunistischer Funktionäre und Nachrichtendienstler bestand und direkt der Parteiführung zugeordnet war, sagte „Miso“ im Prozess 2008 gegen Prates aus. Jeder von diesem Netzwerk beschlossene Mordauftrag habe von Tito und von dessen Nachfolgern in Belgrad persönlich genehmigt werden müssen.
Der Prozess in München wird die Zeit des Kalten Kriegs noch einmal auferstehen lassen. Das Gericht nimmt sich dafür viel Zeit: 50 Verhandlungstage sind schon jetzt angesetzt, 44 Zeugen und sieben Sachverständige wurden geladen. Doch keiner der Prozessbeteiligten wagt eine Prognose, ob das reichen wird, um den Mord an Stjepan Đureković von 1983 endlich aufzuklären.
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