Manchmal ist ein Blick zurück ganz aufschlussreich, wenn darüber diskutiert wird, welche Verfehlungen für den Rücktritt eines hohen Amtsträgers ausreichen. Der damalige FDP-Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann etwa musste 1993 seinen Hut nehmen, nachdem er sich für einen Einkaufswagenchip einsetzte, den sein Vetter erfunden hatte. Verkehrsminister Günther Krause (CDU) stolperte über eine schwarz arbeitende Putzfrau, Annette Schavan und Karl Theodor zu Guttenberg wurden plagiierte Doktorarbeiten zum Verhängnis, und Bundespräsident Christian Wulff stürzte über letztlich gar nichts.
Und dann haben wir da Hans-Georg Maaßen. 2012 als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz angetreten und seitdem Verwalter einer beispiellosen „chronique scandaleuse“ der von ihm geführten Behörde. Die Stichpunkte der Skandale reichen von Vertuschen (NSU-Affäre) und Verleugnen eigener Fehlleistungen (Weihnachtsmarktattentat) über die Verbreitung von Halb- und Unwahrheiten (Chemnitz-Video, noch mal NSU) bis hin zu Versagen in der operativen Arbeit (noch mal Weihnachtsmarktattentat) und zweifelhafter Nähe zu politischen Elementen (AfD), die eher einer Beobachtung als einer Beratung durch den Inlandsgeheimdienst bedürfen. Hinzu kommt ein ungewöhnlich tiefes Zerwürfnis zwischen den Amtsführungen in Köln und den Ländern, das jüngst in einem öffentlich ausgetragenen Streit über die Beobachtung der AfD gipfelte.
Und dann scheint es auch in der Spitze des Bundesamtes selbst eine wachsende Gegnerschaft zu dem auch im Hause ungeliebten Verfassungsschutzchef zu geben. Denn wie sonst kann ein Sprechzettel für den Behördenleiter an die Öffentlichkeit gelangen, wenn nicht durch einen Widersacher aus dem engsten Führungskreis? Woher sonst stammen die Einflüsterungen, mit denen sich Maaßen blamierte, als er das Video über eine Menschenjagd in Chemnitz als Fälschung abtat? Entweder ist der 56-Jährige in seinem Amt von lauter Deppen umgeben oder von Intriganten, die ihren Chef so lange ins Messer laufen lassen, bis der Bundesinnenminister ihn (und das BfV) endlich von seinen Leiden erlöst. So oder so – Maaßen muss weg.
Der Fall Murat Kurnaz
Am 1. August 2012 war der promovierte Jurist und ehemalige Stipendiat der auf Begabtenförderung spezialisierten Studienstiftung des deutschen Volkes an die Spitze des Bundesamtes berufen worden. Maaßen sollte als Nachfolger des über die NSU-Affäre gestürzten Heinz Fromm den Verfassungsschutz modernisieren. Doch wer einen wirklichen Neustart des Inlandsgeheimdienstes erhofft hatte, sah sich schnell getäuscht. Denn Maaßen, gleichermaßen geprägt von kühler Intelligenz wie von Eitelkeit und Selbstüberschätzung, sorgte weder für eine effizientere Aufklärung extremistischer Bestrebungen durch sein Bundesamt noch für eine umfassende Aufklärung der Verstrickungen des Verfassungsschutzes in die NSU-Affäre. Stattdessen erwies er sich – wieder einmal – als williger Vollstrecker einer Law-and-Order-Politik, die auf eine weitere Einschränkung von Bürgerrechten und die Ausweitung des Überwachungsapparates setzt.
Von Anfang an hatten Kritiker seiner Berufung an die BfV-Spitze Maaßen als seelenlosen Technokraten und Zyniker beschrieben und dabei an seine Rolle im Fall Murat Kurnaz erinnert. Im Januar 2002 war der in Bremen geborene Türke Kurnaz von den US-Behörden unschuldig nach Guantánamo verschleppt worden, wo man ihn ohne Anklage bis August 2006 festhielt. Dabei hatten die Amerikaner schnell mitbekommen, dass der damals 20-Jährige kein feindlicher Kämpfer war. Aber Berlin wollte Kurnaz nicht zurücknehmen, vor allem auf Betreiben des damaligen Kanzleramtsministers und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD), der sich dabei von Maaßen assistieren ließ. Maaßen – damals im Bundesinnenministerium für Ausländerrecht zuständig – beschied Ende 2002, dass Kurnaz’ Aufenthaltsgenehmigung erloschen sei, weil er sich „länger als sechs Monate im Ausland“ aufgehalten habe. Noch 2012 verteidigte er im Bundestags-Untersuchungsausschuss seine zynische Rechtsinterpretation.
Als Verfassungsschutzchef wurde Maaßen von der Bundesregierung lange gehätschelt. Sein Apparat wurde personell und finanziell aufgebläht, Berlin weitete die Befugnisse des Dienstes und die Zugriffsmöglichkeiten des Bundesamtes auf die Länder aus. Maaßen genoss sichtlich die neue Machtfülle, er schien unangreifbar, selbst als er die Ermittler und das Parlament eiskalt abblockte, die sich für die Verquickungen seines Amtes mit dem NSU-Netzwerk interessierten. Die öffentliche Entrüstung darüber taten er und die Bundesregierung mit einem Schulterzucken ab. Maaßen gab Interviews, so viele wie keiner seiner Vorgänger. Stets in Anzug und Weste gekleidet, parlierte er mit leiser Stimme und gewählten Worten über Salafisten und Islamisten, über russische Bots und Trolle, über linke Extremisten und rechte Reichsbürger. Nur mit der AfD hatte er – zumindest operativ – nichts am Hut.
Mit dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 aber begann Maaßens Stern zu sinken. Wochenlang war der sonst so redselige Geheimdienstchef von der Bildfläche verschwunden. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière erschien lieber in Begleitung des Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, vor den Kameras und im Bundestags-Innenausschuss. Ganz offensichtlich wollte der CDU-Politiker im Wahljahr 2017 nicht auf einem Foto mit Maaßen erscheinen, solange die Möglichkeit im Raum stand, dass der Geheimdienst beim Attentat vom Breitscheidplatz ebenso versagt hatte wie schon beim NSU.
Tatsächlich gelang es Maaßen und seinem BfV anderthalb Jahre lang den Eindruck zu erwecken, man habe sich in der Causa Amri nichts zuschulden kommen lassen. Dann enthüllte die Tageszeitung Die Welt im vergangenen Mai, dass es im Umfeld des Attentäters doch einen V-Mann des BfV gegeben habe, was Maaßen stets bestritten hatte. Auch das dem BfV direkt übergeordnete Bundesinnenministerium erklärte im Januar 2017 auf Anfrage der Grünen-Fraktion, dass „im Umfeld des Amri keine V-Leute des BfV eingesetzt“ waren. Nun aber hieß es in der Zeitung, der Spitzel habe aus der Berliner Fussilet-Moschee berichtet, in der auch der Attentäter ein und aus gegangen war. Noch am Tag des Anschlags seien Amri und der V-Mann in der Moschee zusammengetroffen.
Spätestens jetzt war Maaßen endgültig angezählt. Noch einen Fall wie die NSU-Affäre, bei der über Jahre hinweg immer mehr V-Leute im Umfeld der Terrorzelle auftauchten und Diskussionen über die Sinnhaftigkeit des Verfassungsschutzes anheizten, wollte man in der Bundesregierung nicht. In den letzten Wochen dann ging es Schlag auf Schlag: Erst enthüllte Anfang August eine AfD-Aussteigerin geheime Hintergrundgespräche im Jahr 2015 zwischen der damaligen Parteichefin Frauke Petry und Maaßen, in deren Verlauf der BfV-Chef Empfehlungen gegeben haben soll, wie die – damals noch nicht im Bundestag vertretene – Partei einer Beobachtung durch seinen Dienst entgehen könne.
Hauptsache Quellenschutz
Dann tauchte wenig später ein offenbar aus dem Führungszirkel des Bundesamtes stammender Sprechzettel für Maaßen auf, der den Präsidenten im Zusammenhang mit dem V-Mann in Amris Umfeld endgültig der Lüge zu überführen scheint. In dem Papier, das Maaßen auf ein Treffen mit Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) im März 2017 vorbereiten sollte, heißt es, „ein Öffentlichwerden des Quelleneinsatzes“ in der Fussilet-Moschee sei „schon aus Quellenschutzgründen zu vermeiden“. Auch müsse „ein weiteres Hochkochen der Thematik … unterbunden werden“. Anders ausgedrückt: Maaßen soll die Wahrheit vertuschen, damit das BfV nicht in den Strudel der Ermittlungen eines Untersuchungsausschusses gerät.
Zuletzt trugen Anfang September in einer bis dahin beispiellosen Revolte mehrere Landesämter für Verfassungsschutz eine wochenlange interne Auseinandersetzung mit dem Bundesamt in die Öffentlichkeit. Es ging um die Beobachtung der AfD, der sich das Bundesamt bis dahin verweigerte. Von einer „Hinhaltetaktik“ sprachen anonym bleibende Spitzenbeamte aus den Ländern in der Süddeutschen Zeitung: „Der Bund steht auf der Bremse.“
In dieser Woche dann musste sich der (Noch-) BfV-Präsident vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium und dem Innenausschuss des Bundestages zu dem verräterischen Sprechzettel, dem V-Mann im Amri-Umfeld und seinen AfD-Kontakten – auch mit Parteichef Alexander Gauland hatte Maaßen sich getroffen – ebenso erklären wie zu seiner starrköpfigen Weigerung, die AfD überwachen zu lassen. Dem 57-Jährigen dürfte klar gewesen sein, dass mit diesen Anhörungen sein Ende an der Spitze des Bundesamtes eingeläutet wird. Spätestens nach der Landtagswahl in Bayern, so viel schien festzustehen, würde ihn Bundesinnenminister Horst Seehofer in den Ruhestand schicken.
Nun aber könnte es doch schneller gehen. Mit seiner via Bild verbreiteten Mär vom gefälschten Menschenjagd-Video aus Chemnitz und erst recht mit seiner nachgeschobenen Rechtfertigung, in der er sich an die Seite der „Lügenpresse“-Schreihälse stellt, hat Maaßen den Anspruch, Hüter der Verfassung zu sein, endgültig verspielt.
Eine Frage aber bleibt nach dem seltsamen Fake-Video-Interview doch noch: Warum riskiert damit ein so intelligenter Mensch wie Maaßen, mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt zu werden? Es gibt drei Möglichkeiten: 1. Er war von seinen Mitarbeitern (absichtlich?) falsch beraten worden. 2. Er hatte sich Seehofer als quasi rechte Hand und politischer Verbündeter gegen Kanzlerin Merkel andienen wollen, um dessen Beistand und sein Amt zu behalten. 3. Er wollte mit dem Interview angesichts der nach der Sprechzettel-Enthüllung unausweichlichen Entlassung eine Dolchstoßlegende stricken – nämlich dass man ihn nur feuert, weil er sich öffentlich gegen die Kanzlerin und die Medien gestellt hatte. Man kann über die drei Möglichkeiten noch eine Weile spekulieren. Die Hauptsache aber ist, dass Maaßen endlich aus dem Spiel genommen wird.
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