NSU-Mordserie neu aufgerollt

Rechtsextremismus Können die Angeklagte Zschäpe und ein Untersuchungsausschuss die Hintergründe des Nazi-Trios aufklären?
Ausgabe 47/2015
Beate Zschäpe will Anfang Dezember Stellung zu den Anklagevorwürfen nehmen
Beate Zschäpe will Anfang Dezember Stellung zu den Anklagevorwürfen nehmen

Foto: Sebastian Widmann/Imago

„So einen Fall wie mich, das hat’s noch nicht gegeben.“ Sagte Beate Zschäpe, die Frau in der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), die unter Aliasnamen wie Susann Dienelt, Mandy Pohl oder Bärbel Bucilowski zusammen mit ihren Weggefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt fast 14 Jahre lang im Untergrund lebte. Sie sagte diesen Satz zu einem Beamten des Bundeskriminalamts, der sie 2012 in einem VW-Bus auf einem Haftausflug nach Thüringen begleitete.

Beate Zschäpe hat recht. Wann gab es schon einmal einen Fall, in dem die Beweislast gegen die vermutlichen Täter gleichzeitig so klar zu sein scheint – und doch so widersprüchlich ist? Der 40-jährigen Lebensgefährtin und Komplizin der mutmaßlichen rechten Terroristen und vielfachen Mörder Böhnhardt und Mundlos, die seit ihrer Festnahme vor vier Jahren beharrlich schweigt, kann man die Schuld dafür nicht zuschreiben. In einem rechtsstaatlichen Verfahren ist sie als Beschuldigte nicht verpflichtet, Aussagen zu machen oder sich gar selbst zu belasten. Verpflichtet sind hingegen die Ermittler, allumfassend die Umstände von Straftaten und die daran Beteiligten aufzuklären.

Warum Zwickau?

Im Fall des NSU aber haben Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt dies nicht im erforderlichen Maß getan. Vielen Spuren und Hinweisen, die tiefer in das undurchsichtige Geflecht aus gewaltbereiten Neonazis, zwielichtigen Verfassungsschutzspitzeln und Geheimdiensten führen, sind sie nicht nachgegangen. Zu groß war offenbar der politische Druck auf die Ermittler, in möglichst kurzer Zeit eine einigermaßen belastbare Anklage für einen Prozess zu zimmern, die zudem eine Mitverantwortung staatlicher Behörden für die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ konsequent aussparen sollte.

Nun aber, vier Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios, könnte die Aufklärung der einmaligen Verbrechensserie einen neuen Schub bekommen. In München will Beate Zschäpe Anfang Dezember in einer umfangreichen Erklärung Stellung zu den Anklagevorwürfen nehmen und anschließend dem Gericht für Fragen zur Verfügung stehen. Auch ihr Mitangeklagter Ralf Wohlleben will anschließend sein bisheriges Schweigen brechen. Und in Berlin nimmt ein neuer Untersuchungsausschuss des Bundestages vor allem das Agieren von Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden vor und nach dem Auffliegen des NSU unter die Lupe.

Unter den Prozessbeteiligten in München sind die Erwartungen gewaltig. Schon sprechen manche von einer Zeitenwende und davon, dass das Gerichtsverfahren quasi neu beginnen wird. Denn nach allem, was bereits durchgesickert ist, will Beate Zschäpe in ihrer Aussage nicht nur Angaben zu den Straftaten machen, die dem NSU zugeschrieben werden; sie wird wohl auch eine Fülle von Details und neuen Zusammenhängen insbesondere über die Zwickauer Jahre des Trios liefern.

Im Jahr 2000 waren Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt nach Zwickau gezogen und hatten sich fortan einem Unterstützernetzwerk anvertraut, dessen Struktur bislang nur in Ansätzen aufgeklärt wurde. Die Folge davon ist, dass die Ermittler über die Zwickauer Jahre des NSU-Kerntrios so gut wie keine relevanten Erkenntnisse haben. Und so konnte auch das Gericht bislang einige wesentliche Fragen nicht klären: Warum sind die drei untergetauchten Neonazis 2000 ausgerechnet nach Zwickau umgezogen? Mit welchen Personen pflegten sie dort bis ins Jahr 2011 hinein Umgang? Wo hielten sich Mundlos und Böhnhardt während ihrer oft wochenlangen Abwesenheiten von der gemeinsamen Zwickauer Wohnung auf? Wer organisierte und ermöglichte dem Trio aus welchem Grund 2008 den Umzug in die „bessere Gegend“ an der Frühlingsstraße? Warum ging mit diesem Umzug ein solch auffälliger Wandel in der Lebensweise der drei einher, die nun plötzlich – wie etwa in ihren Urlauben – offensiv die Bekanntschaft von Fremden suchten?

All diese Fragen wird das Gericht nun Beate Zschäpe stellen in der Hoffnung, endlich Licht in die „Blackbox“ der Zwickauer Jahre zu bringen. Geht es hierbei doch vor allem um die verfahrensrelevante Frage, ob das NSU-Kerntrio in seiner Aktionsphase zwischen den Jahren 2000 und 2007 wirklich so losgelöst und abgekapselt von der Szene agiert hat, wie es die Anklageschrift darstellt. Zschäpe könnte, wenn sie es denn will, damit gleichzeitig die Spekulationen darüber beenden, wie groß die Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ wirklich war oder auch noch ist.

Grobe Ermittlungsfehler

Denn die Zweifel an der staatsoffiziellen Version, wonach es sich beim NSU lediglich um eine abgeschottete Kleinstzelle handelt, artikulieren längst nicht nur Nebenklägeranwälte im NSU-Prozess und kritische Journalisten. Auch Parlamentarier aller demokratischen Parteien äußern mehr oder weniger unverblümt die Vermutung, die Öffentlichkeit werde von staatlichen Behörden hinters Licht geführt.

Vergangene Woche etwa, als im Bundestag über die Einsetzung eines neuen NSU-Untersuchungsausschusses debattiert wurde, sorgte der CDU-Abgeordnete Armin Schuster mit einer Rede für Aufsehen. Der NSU bestehe womöglich aus mehr Tätern und den Kopf dahinter kenne man noch gar nicht, sagte er. Auch passe die perfide Genialität dieser Verbrechensserien nicht zu den Psychogrammen der drei Täter, die wir kennen. Schließlich sei der Selbstmord in Eisenach vielleicht keine verabredete Aktion gewesen, die Wohnung in der Frühlingsstraße gar nicht so in die Luft geflogen, wie wir bisher glaubten, Kiesewetter hätten mehr als zwei Täter umgebracht und sowieso habe die V-Leute-Szene Bescheid gewusst.

Nach seiner Rede sagte Schuster, der Obmann seiner Fraktion im neuen NSU-Ausschuss sein wird, er habe mit seinen Thesen provozieren und zum Nachdenken anregen wollen. Man kann aber auch sagen, der CDU-Abgeordnete gab nur die Aufklärungsschwerpunkte wieder, die sich das neue Gremium vorgenommen hat. Denn im Mittelpunkt werden diesmal noch stärker als im ersten Ausschuss die Aktivitäten von Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft stehen. Anders als im ersten NSU-Ausschuss soll zudem jetzt auch die Zeit nach dem Auffliegen der Terrorgruppe 2011 beleuchtet werden. Dabei werden Ermittler die Frage beantworten müssen, warum sie vielen Hinweisen und Zeugenaussagen, die auf einen größeren Kreis von Mittätern deuten, nur unzureichend nachgegangen sind. Das bezieht sich etwa auf den Polizistenmord in Heilbronn, die Tatumstände des Mordanschlags in einem Kasseler Internetcafé, die Bombenanschläge in Köln sowie Spuren, die auf eine Verflechtung des Trios mit weiteren rechtsextremen Gruppen, aber auch mit der organisierten Kriminalität und dem Rockermilieu hindeuten.

Daneben werden auch die Abläufe rund um den 4. November 2011 in Eisenach und Zwickau in dem neuen Bundestagsuntersuchungsausschuss eine zentrale Rolle spielen. Die seit vergangenem Frühjahr arbeitenden Ausschüsse der Landtage in Dresden und Erfurt haben hierbei in ihren letzten Sitzungen bereits eine ganze Reihe von groben Ermittlungsfehlern aufgedeckt, die die Abläufe an diesem Tag zum Teil in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Neben den Versäumnissen bei den NSU-Ermittlungen wird der neue Untersuchungsausschuss aber auch noch einmal das Agieren des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vor und nach dem Auffliegen der Terrorgruppe unter die Lupe nehmen. Denn wie sich in den letzten zwei Jahren herausstellte, haben Vertreter des BfV dem ersten Ausschuss seinerzeit wesentliche Informationen und Unterlagen vorenthalten. So etwa über ein im Bundesamt angesiedeltes Fachreferat für Rechtsterrorismus. Aufgabenbereich und Tätigkeit dieses Referats will der neue Ausschuss nun genauer untersuchen. Genauer untersuchen will er auch die Rolle der „Lageorientierten Sonderorganisation“ (LoS). Die LoS war im Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011 gebildet worden. Die Gruppe sollte BfV-Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus für die Ermittler zusammenstellen, hielt aber offenbar auch verfahrensrelevante Unterlagen zurück.

Zum Stab des LoS gehörte zudem jener BfV-Abteilungsleiter, der nur wenige Tage nach dem Auffliegen des NSU die Akten von mehreren V-Leuten aus dem Umfeld des Trios schreddern ließ. Natürlich wird sich der Ausschuss auch noch einmal mit den V-Leuten befassen. Nebenklägeranwälte im Münchner NSU-Prozess gehen nach der Enttarnung weiterer Informanten in den letzten zwei Jahren inzwischen von mehr als 40 Spitzeln rund um den NSU aus.

Vier Jahre nach dem vorläufigen Ende des NSU stehen die Zeichen günstig, dass bislang ungelöste Fragen nun endlich beantwortet werden können. Dann ließe sich vielleicht auch überprüfen, ob Beate Zschäpe recht hatte mit ihrer Bemerkung, dass es einen Fall wie ihren noch nie gab.

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