„Offenbar strategisch gelogen“

Interview Der Strafrechtsexperte Sebastian Scharmer erwartet im NSU-Prozess eine lange Haftstrafe für Beate Zschäpe
Ausgabe 05/2017
Seit Mitte März 2013 Zschäpes Gefängnis: München-Stadelheim
Seit Mitte März 2013 Zschäpes Gefängnis: München-Stadelheim

Fotos: Christof Stache/AFP/Getty Images

Mit einem Gutachten über Beate Zschäpe beauftragte das Gericht den Psychiater Henning Saß im NSU-Prozess. Saß spricht darin der Angeklagten volle Schuldfähigkeit zu. Zugleich bezweifelt er Zschäpes Darstellung, sie habe den Mordtaten ihrer beiden Gefährten willenlos gegenübergestanden. Angesichts ihres Doppellebens im Untergrund bescheinigt er ihr „Disziplin, Raffinesse, eine extrem hohe Fähigkeit zur Camouflage, aber auch eine gute Abspaltungsfähigkeit“. Der Opferanwalt Sebastian Scharmer spricht im Interview darüber, warum er nicht mit einer Sicherungsverwahrung rechnet.

der Freitag: Im Prozess scheint es zurzeit nur ein Thema zu geben: das psychiatrische Gutachten, das eine spätere Sicherungsverwahrung der Angeklagten begründen soll. Wie real ist die Gefahr für sie, auf Dauer weggesperrt zu werden?

Sebastian Scharmer: Aus meiner Sicht kommt eine Sicherungsverwahrung für Beate Zschäpe nicht in Betracht. Wenn sie das Gericht für die NSU-Taten – was nach bisheriger Einschätzung recht wahrscheinlich ist – als Mittäterin verurteilt, dann bekommt sie höchstwahrscheinlich ohnehin „lebenslang“. Eine lebenslange Haftstrafe zu verhängen und gleichzeitig eine Sicherungsverwahrung anzuordnen, macht aber schon rein technisch keinen Sinn. Zumal der Bundesgerichtshof erst 2014 entschieden hat, dass es dieses Nebeneinander in einem sogenannten Altfall – also bei Taten, die vor 2013 begangen wurden – nicht geben soll.

Das heißt, Zschäpe bleibt die Perspektive, in absehbarer Zeit auf freien Fuß zu kommen.

Was heißt „absehbare Zeit“? Bei der Verhängung einer lebenslangen Haftstrafe bleibt der Verurteilte jedenfalls für einen Mindestverbüßungszeitraum in Haft. Danach kann er auch nur dann entlassen werden, wenn ein Gericht nach Einholung eines Gutachtens meint, dass keine schweren Straftaten mehr drohen. Das ist vom Prozedere nichts anderes als bei einer Sicherungsverwahrung. Sicherungsverwahrung heißt ja, dass man nach dem Ende seiner Strafe, also wenn man seine Schuld abgesessen hat, nicht automatisch entlassen wird, sondern in Verwahrung bleibt und nur dann freikommt, wenn ein Gericht nach Einholung eines Gutachtens zu der Überzeugung gelangt, dass keine Gefahr mehr von dem Betroffenen für gravierende Taten ausgeht.

Und wie lang ist so ein Mindestverbüßungszeitraum?

Bei „lebenslang“ sind das in der Regel erst mal 15 Jahre. Danach entscheidet das Gericht über eine Entlassung, aber eben nur, wenn es davon überzeugt ist, dass von dem oder der Verurteilten keine Straftaten mehr drohen. Das kann noch einmal sehr lange dauern; manchmal 30 Jahre und mehr. Zschäpe droht bei einer Verurteilung zusätzlich noch, dass das Gericht eine besondere Schwere ihrer Schuld feststellt. Das bedingt dann, dass erst frühestens nach 13 Jahren Haft der Mindestverbüßungszeitraum festgelegt wird, der dann auch deutlich länger als 15 Jahre sein kann. So war es etwa bei mehreren mutmaßlichen RAF-Mitgliedern, bei denen das Gericht eine relativ lange Mindestverbüßungsdauer feststellte, also beispielsweise 27 oder 29 Jahre.

Zur Person

Sebastian Scharmer vertritt als Anwalt im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre mutmaßlichen Unterstützer die Nebenklägerin Gamze Kubaşık. Sie ist die Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubaşık. Sebastian Scharmer, Jahrgang 1977, hat sich als Rechtsanwalt auf Straf- und Verfassungsrecht spezialisiert

Foto: Stefan M. Prager/Imago

Also bringt es aus Ihrer Sicht nichts, bei jemandem, der sowieso lebenslang einsitzt, auch noch Sicherungsverwahrung anzuordnen?

Genau. Das hätte allein Symbolcharakter. Und deshalb sagt ja der BGH – und zwar auch der dritte Strafsenat, der über eine mögliche Revision des Zschäpe-Urteils zu entscheiden hätte –, dass beides zusammen bei Altfällen nicht geht.

Ist das Instrument der Sicherungsverwahrung überholt?

Ich halte Sicherungsverwahrung für nichts, was Sinn macht. Sicherungsverwahrung wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt durch das sogenannte Gewohnheitsverbrecherbekämpfungsgesetz. Heute gehört das abgeschafft. Der NS-Staat ging damals – und das tut die deutsche Justiz leider auch heute noch – von einem Täterbild aus, dem ein sogenannter „Hang“ zu kriminellen Handlungen attestiert wird. Das meint nach der Rechtsprechung ein tief eingeschliffenes Verhaltensmuster, immer wieder kriminell rückfällig zu werden.

Also in gewisser Weise Triebtäter?

Es ist ein großer Irrglaube, dass es sich bei Sicherungsverwahrten stets um Sexualstraftäter handelt oder um Menschen, die wegen Tötungsdelikten verurteilt sind. Das ist mitnichten so. Ich habe viele Mandanten in Sicherungsverwahrung, die sitzen beispielsweise wegen Raub- oder Drogendelikten ein. Ich habe zum Beispiel einen Mandanten, der mit einer nicht geladenen Schreckschusspistole einen Bastelladen überfallen hat und nach vollständiger Verbüßung seiner Haftstrafe seit nunmehr über zehn Jahren in Sicherungsverwahrung sitzt.

Aber ist so eine Unterbringung nicht als Präventivmaßnahme gedacht, als eine Gefahrenabwehr für die Allgemeinheit?

Die Maßregel der Sicherungsverwahrung beruht allein auf einer Prognose, welche Gefahr von einem Menschen ausgeht – aber diese Prognose ist oft falsch. Es gibt Studien dazu. 2010 etwa hat der Strafvollzugsexperte Michael Alex 77 Fälle in ganz Deutschland untersucht, bei denen die Staatsanwaltschaft anhand von Gutachten nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt hatte, die dann aber von den Gerichten nicht genehmigt wurde. Tatsächlich sind danach nur vier von den Personen nach ihrer Haftentlassung mit erheblichen Delikten rückfällig geworden, die eine Sicherungsverwahrung begründen könnten. Das heißt, dass man 73 zu Unrecht einsperren wollte. Wenn man dieser Studie folgt, würde das bedeuten, dass rund 90 Prozent der Gutachten, die zu einer Sicherungsverwahrung führen, falsch sind. Solch eine Fehlerquote ist aus meiner Sicht nicht hinnehmbar, wenn es um präventiven Freiheitsentzug für Menschen geht.

Das Gutachten bescheinigt Beate Zschäpe einen „Hang“ zu kriminellen Aktivitäten. Das heißt, der Sachverständige sieht sie als fortdauernde Gefahr für die Allgemeinheit – was ja Voraussetzung für eine Sicherungsverwahrung wäre. Teilen Sie die Sicht von Professor Saß?

Ich teile seine Einschätzung, was die fehlende Glaubhaftigkeit von Zschäpes Einlassungen betrifft, die ja überwiegend von ihren Verteidigern vorgetragen wurden. Dass sie dabei offenbar strategisch und ergebnisorientiert gelogen hat. Was ich auch teile, ist die Einschätzung, dass sie eine starke, durchsetzungsfähige Persönlichkeit ist, die sich gegen ihre männlichen Partner behaupten konnte und ein gleichberechtigtes Mitglied der Gruppe war. Wenn Saß sagt, Frau Zschäpe wäre, würde sie heute entlassen, eine Gefahr für die Allgemeinheit – finde ich das eine schwierige Hypothese. Ganz Deutschland kennt diese Frau, ob sie jetzt tatsächlich neue Taten begehen könnte, bezweifle ich, schon allein, weil das Entdeckungsrisiko quasi bei 100 Prozent läge. Auf der anderen Seite könnte sie sich natürlich neue Komplizen suchen. In der deutschen Neonaziszene gibt es genügend gewaltbereite Gruppen und Personen, denen sie sich anschließen könnte. Dennoch sehe ich die Voraussetzung für eine Sicherungsverwahrung bei Beate Zschäpe nicht. Sie wird dafür zu bestrafen sein, was sie getan hat. Darüber hinaus muss man nicht nach alten Nazigesetzen neue Zeichen setzen.

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