Alleine das Verlesen dauerte mehrere Stunden. Es sind hunderte Fragen an Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im Münchner NSU-Prozess. Dass die 41-Jährige eventuell auf keine einzige Frage der Nebenkläger antworten wird, nahmen die Anwälte in Kauf. Zumal es durchaus möglich ist, dass Zschäpe ihre zuvor angekündigte Blockadehaltung doch noch einmal überdenkt – ganz ausschließen wollte das ihr Verteidiger jedenfalls nicht. Den Anwälten der Nebenkläger ging es aber in erster Linie um etwas anderes: Sie wollen vor aller Öffentlichkeit die Fragen und Themen ansprechen, die aus ihrer Sicht bislang vernachlässigt wurden von Bundesanwaltschaft und Gericht.
Detailliert etwa werden die schriftlichen Einlassungen Zschäpes sowie ungeklärte Zusammenhänge aus den Ermittlungsakten hinterfragt: Warum ist das Trio, obwohl es in Chemnitz unentdeckt geblieben war, nach Zwickau umgezogen? Ist einer der drei jemals von einer Sicherheitsbehörde auf eine mögliche Zusammenarbeit angesprochen worden? Wo hielten sich Mundlos und Böhnhardt während ihrer oft wochenlangen Abwesenheiten auf? Welche Nachricht hörte Zschäpe an jenem 4. November 2011, wenige Minuten nach dem Feuer im Eisenacher Wohnmobil, von der Mailbox ihres Handys ab?
Die bohrenden Fragen der Nebenklageanwälte zielen aber nicht nur auf Zschäpe, sondern auch auf das Gericht und die nach wie vor existierenden Aufklärungslücken im Verfahren. Das hat auch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl verstanden: Überraschend legte er in der vergangenen Woche weitere Sitzungstermine bis September 2017 fest. Offenbar soll die Beweisaufnahme doch noch weitergehen, allerdings wird dabei die staatliche Mitverantwortung für die Morde wohl weitgehend ausgeklammert. Quasi im Akkord hatte Götzl zuvor Dutzende, zum Teil schon jahrelang vorliegende Beweisanträge der Nebenklageanwälte abgelehnt. Der Senat sei nicht zu „ausufernder Aufklärung“ verpflichtet und müsse nicht jedes „Randgeschehen“ untersuchen, sagte er.
So schmetterte er Anträge ab, die sich mit der weiteren Aufklärung des Kasseler Mordes befassen. Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in einem Internetcafé erschossen. Zur Tatzeit saß im Hinterraum des Ladens ein hessischer Verfassungsschützer, der bis heute bestreitet, etwas von dem Verbrechen mitbekommen zu haben. Obwohl sich der Mann vor Gericht mehrfach in Widersprüche verwickelt hatte, schätzte Richter Götzl dessen Darstellung nun überraschend als glaubhaft und überzeugend ein. Weitere Zeugenvernehmungen des Verfassungsschützers und seiner Kollegen aus dem Landesamt lehnte das Gericht nun ab.
Betreutes Morden?
Auch einen anderen Fall will das Gericht nicht weiter ermitteln. Das betrifft den Zwickauer Neonazi Ralf Marschner, der als wichtigster V-Mann des Geheimdienstes in der sächsischen Nazi-Szene gilt. In der Zeit der NSU-Mordserie soll er angeblich Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in seinen Firmen beschäftigt haben. Doch selbst wenn das zutreffen würde, so argumentierte Richter Götzl, hätte dieser Umstand „keine Aussagekraft auf die mögliche Verwirklichung der angeklagten Taten oder über die mögliche Schuld der Angeklagten“. Daher wurde auch eine Befragung Marschners und seines V-Mann-Führers abgelehnt.
Dass Götzl sich offenbar nicht mehr mit V-Leuten und dem Agieren des Verfassungsschutzes im Umfeld des NSU-Trios befassen will, bedeutet allerdings keine Schuldbefreiung des Verfassungsschutzes durch das Gericht. Für die Bewertung einer Straf- und Schuldfrage der Angeklagten jedoch sei der Umfang staatlichen Handelns im Umfeld des NSU nicht von Bedeutung. Schließlich habe ein mutmaßlicher Täter keinen Rechtsanspruch darauf, dass der Staat seine Tat verhindert, wenn dieser davon Kenntnis hat. Allerdings könnte es sich für die Angeklagten strafmildernd auswirken, wenn dem Staat die Genese der Taten nachgewiesen werden kann, wenn Behörden also die Taten in jeder Phase überwacht und gesteuert haben. Hierfür aber, das betonte Götzl, habe die bisherige Beweisaufnahme keine Hinweise ergeben.
Die Justiz sieht eine Strafmilderung vor, wenn der Staat in die Straftat verwickelt ist. In einem Fall etwa, der vor einigen Jahren vom Bundesgerichtshof entschieden wurde, ging es um einen umfangreichen Kokainschmuggel aus Südamerika nach Deutschland. Die Sicherheitsbehörden hatten davon vorab Wind bekommen und die Lieferung überwacht – von der Verladung der Ware in Brasilien über die Transitländer bis hin zum Lieferziel in Deutschland wussten die Beamten jederzeit, wo sich das Kokain befand. Man griff jedoch nicht ein, um das Logistiknetz und die Hinterleute des Schmuggels aufklären zu können. Durch diese lückenlose Überwachung hatte der Staat die Straftat geschehen lassen, obwohl er jederzeit die Lieferung hätte stoppen und die Drogen aus dem Verkehr ziehen können. Das ändert zwar nichts an der Strafbarkeit des Schmuggels, wohl aber an der Höhe der Strafe, entschied der Bundesgerichtshof.
Die V-Männer im NSU-Prozess
Tino B.
Der Neonazi Tino B. war von 1994 bis 2001 Informant des Thüringer Verfassungsschutzes. Sein Spitzelhonorar steckte er nach eigenen Angaben überwiegend in den Aufbau der rechten Szene und des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS). Vor Gericht gab B. an, Geld vom Verfassungsschutz an das Trio nach dessen Abtauchen weitergeleitet zu haben. Damit sollten sich die drei unter anderem gefälschte Pässe für eine Auslandsreise besorgen. Ob er auch das Geld gab, mit dem der Mitangeklagte Carsten S. die Ceska-Waffe für das Trio gekauft hatte, daran konnte sich Brandt angeblich nicht mehr erinnern. Allerdings behauptete er, Waffen seien bei ihm und im THS nie ein Thema gewesen. Auch will er mäßigend in Diskussionen über Militanz und Bewaffnung in der Szene aufgetreten sein.
Marcel D.
Marcel D., bis zum Jahr 2000 Anführer der militanten Nazi-Organisation Blood&Honour in Thüringen, ist bereits dreimal im Münchner Prozess als Zeuge erschienen. Stets hat er bestritten, zwischen 1996 und 2000 unter dem Decknamen „Hagel“ mit dem Erfurter Landesamt für Verfassungsschutz kooperiert zu haben. Dabei hat das Landesamt dies vor Gericht bereits bestätigt. Inzwischen laufen Ermittlungen gegen D. wegen Falschaussage.
Kai D.
Der heute 52-jährige Kai D. war von 1987 bis 1998 für den bayerischen Verfassungsschutz in der rechten Szene aktiv. Vor Gericht gab er an, in Abstimmung mit dem Geheimdienst den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes (THS) in den 90er Jahren intensiv unterstützt zu haben. Der THS, aus dem das NSU-Trio hervorging, habe über viele Waffen und Sprengstoff verfügt. Sein Anführer Tino B. hat sich laut D. „extrem für Gewaltaktionen“ eingesetzt. „B. hat die Szene radikalisiert und dafür gesorgt, dass sie militanter wird“, sagte er vor Gericht. Er konnte sich auch an von B. geführte Diskussionen über den bewaffneten Kampf gegen den Staat erinnern. Ob daran Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe teilgenommen haben, wusste D. jedoch nicht mehr.
Carsten S.
Der wegen versuchten Totschlags vorbestrafte und heute in einem Zeugenschutzprogramm des Verfassungsschutzes lebende Carsten S. hatte in den 90er Jahren unter dem Decknamen „Piatto“ für das Brandenburger Verfassungsschutz gearbeitet. Vor Gericht gab er an, enge Beziehungen in das Chemnitzer Unterstützerumfeld des NSU-Trios unterhalten zu haben. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe habe er hingegen nicht gekannt. Als V-Mann hatte „Piatto“ 1998 darüber berichtet, dass die Chemnitzer Geld und Waffen für das Trio besorgen wollten und die Untergetauchten weitere Überfälle planten. Die Informationen hatte der Geheimdienst der Thüringer Polizei damals jedoch vorenthalten. Vor Gericht konnte sich S. angeblich nicht mehr an seine damaligen Berichte erinnern.
Nun lässt sich dieses Urteil sicherlich nicht ohne weiteres auf einen Mordfall übertragen. Gleichwohl macht das Beispiel einiges klar: Die bisher vorliegenden Erkenntnisse über das Agieren von Verfassungsschutz und Polizei im Umfeld des NSU sind zu lückenhaft, um für die Straf- und Schuldfrage im laufenden Prozess relevant zu sein. Wenn die Behörden – wofür eine ganze Reihe von Indizien sprechen – das Abtauchen des Trios duldeten und teilweise sogar kontrollierten, haben sie damit zwar die Mordserie indirekt ermöglicht. Doch das ist immer noch etwas anderes als ein „staatlich betreutes Morden“, wie die Vorsitzende des Thüringer Untersuchungsausschusses, Dorothea Marx (SPD), die NSU-Taten nennt. Davon ließe sich aus juristischer Sicht erst sprechen, wenn nachgewiesen wäre, dass die Behörden von den Taten des Trios wussten und trotzdem nicht eingriffen. Anhaltspunkte dafür gibt es durchaus, aber die Bundesanwaltschaft geht dem nicht konsequent genug nach. Und der Verfassungsschutz blockiert nach wie vor eine umfassende Aufklärung.
Der Nebenklägeranwalt Sebastian Scharmer kann sich daher vorstellen, dass die Rechtsauffassung des Münchner Gerichts auch einer möglichen Überprüfung durch eine Revisionsinstanz standhalten könnte. „Wenn Herr Götzl sagt, es geht uns hier nur um die Straf- und Schuldfrage im engsten Sinne der Anklage, und da spiele das Interesse der Nebenkläger an der Frage, ob die Taten hätten verhindert werden können, keine Rolle, dann ist das natürlich frustrierend und deprimierend für unsere Mandanten“, sagt Scharmer. Es gebe aber noch ein weiteres Problem: „Wenn das Gericht sagt, es ist für uns in diesem Prozess nicht relevant, dann darf das nicht heißen, dass es auch für den Generalbundesanwalt irrelevant ist. Genau so wird das aber interpretiert.“
Kein Wille zur Aufklärung
Zwar werde weiter ermittelt, ob der Verfassungsschutz jedoch Informationen über den NSU und dessen Taten erhalten hat und wie die Behörde mit diesem Wissen umgegangen ist, das werde erfahrungsgemäß gerade nicht im Fokus dieser Ermittlungen stehen, glaubt Scharmer. „Welche Zeugen und V-Leute vernommen werden, welche Fragen ihnen gestellt, welche Unterlagen ausgewertet werden, und was bei all dem herauskommt – darüber erfahren wir nichts, trotz unzähliger Nachfragen und Anträge auf Akteneinsicht“, beklagt sich der Anwalt. Seinem Eindruck nach unterbinde die Bundesanwaltschaft eine umfassende Aufklärung des NSU und seines Netzwerkes, „und zwar nicht, weil man eine Aufklärung nicht betreiben könnte, sondern weil man sie nicht weiter betreiben will“.
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